Dass sie dabei von Tag zu Tag wohlbeleibter, oder roh ausgedrückt, dicker wurde, und dass Ferdinand in einem wahrhaft tragikomisch genauen Verhältnis abmagerte und immer hohlwangiger, dünnstimmiger und spindelbeiniger sich in die ihm angewiesenen Winkel drückte, kam dabei nicht in Betracht und braucht auch von uns nicht in Betrachtung gezogen zu werden. Wir wollen uns aber unsere behagliche Stimmung und unsere, uns von unsern Vorfahren treulich überlieferte konventionelle Weltanschauung auch nicht verderben lassen. Einfach und historisch stellen wir das Faktum unserem Publikum vor das Auge und vertrauen auf seinen unbefangenen Blick.
»Wir bewohnten nach unserer Rücklehr von der großen Reise noch anderthalb Jahre lang unser Landhaus im Schweizerstil an der Elbe«, erzählte der Baron, das Taschentuch an die Stirn drückend, weiter. »Wer unter unseren Fenstern durchzog und den Blick zu unserer Besitzung emporhob, rief gewisslich: ›O, Himmel, welche Idylle!‹ Aber das war es gar nicht. Unser Verkehr war der nobelste, und Miss Christabel Eddish war längere Zeit unser lieber Gast. Wir trieben Englisch mit Miss Christabel, denn wir sind überhaupt sehr literarisch und ästhetisch gebildet, und sobald die Bedingungen gegeben sind, und die nötige Bequemlichkeit nicht mangelt, stimmt uns die Welt in allen ihren Farben und Tönen höchst romantisch. Aber die Bedingungen müssen vorhanden sein, und als wir eines Morgens erfuhren, dass meines seligen Schwiegervaters reicherer Nachbar, der berühmte Schneidermeister Joachim Hellsitzer, das an unser Besitztum grenzende Grundstück gekauft habe und auf demselbigen freundnachbarschaftlichst ebenfalls eine Villa bauen werde, sanken wir sofort aus unserer romantischen Höhe in den trivialsten Verdruss des Alltags hinunter. Leider war noch dazu der Nachbar Hellsitzer ein Mann von unstreitbarer Tatkraft, und er führte seinen Plan mit wahrhaft wunderbarer Rapidität aus. Ehe wir es für möglich gehalten hatten, wuchsen seine Gerüste empor und versperrten uns die Aussicht auf die Sächsische Schweiz und die böhmischen Berge. Hellsitzersruhe nahm mir die meinige vollständig. Die Villa Asola stellte die Villa Coconia ganz und gar in den Schatten, und je höher und prachtvoller ihr Gemäuer im rein gotischen Stil sich auftürmte, desto unerträglicher wurde meiner Lucie der Aufenthalt ln unserem bescheiden idyllischen Chalet. Nicht nur dass uns der entsetzliche Schneider durch seine gotische Burg die Aussicht auf die böhmischen Berge verbaute, er verbaute uns auch ethisch die Aussicht, indem er uns den letzten Rest unseres Glaubens an das Schicklichkeitsgefühl des Plebejertums im Busen vernichtete. Es war unerträglich, lieber Pechlin, und das Weib und die Töchter des kleiderkünstlerischen Raubritters taten das Ihrige und spickten die Mauern, welche er uns vor die Nase setzte, höhnisch und schadenfroh mit den spitzesten Nägeln und den schärfsten Glasscherben: sie grüßten nämlich meine Gattin über diese Mauern und sie wagten es sogar, Miss Christabel Eddish über diese Mauern zu grüßen. Noch eine Sommersaison hindurch versuchten wir es, statt nach der Sächsischen Schweiz hinüber, nur in uns hineinzusehen und uns, jenem reichgewordenen rohen Pöbel gegenüber, durch den Hinblick auf unsern eingeborenen, unveräußerlichen, unveränderlichen Wert zu stärken und aufrecht zu erhalten; aber es ging nicht. Im Herbste des vorigen Jahres hat meine Frau das Chalet an einen opulenten, zu feist und zu unbeholfen gewordenen Professor der Prestidigitatrie und höhern Magie verkauft, und wir haben in Genf in einer Pension ein halbes Jahr unbehaglich gelebt. Im letzten Winter waren wir in Brüssel, wo Miss Christabel wieder zu uns stieß, ehe sie in Familienangelegenheiten von Morges nach London ging. Jetzt sind wir hier und werden jedenfalls den Winter über hier verweilen, doch kommt es auch, was das anbetrifft, wiederum sehr darauf an, was Miss Christabel Eddish, die augenblicklich nach Florenz geht, darüber beschließen wird. O, Pechlin, o, Pechle, Pechle, wie fangen wir es an, dass du Miss Christabel kennen lernst, und dass meine Lucia dich ohne Widerwillen bei sich empfängt?!«
»Dass mich deine Lucia ohne Widerwillen bei sich empfängt?!« wiederholte Pechle und fügte hinzu: »Na, na, Rippgen, dass ihr Sachsen höchst gemütliche Leute seid, das weiß die Welt; aber weißt du denn wohl, dass du soeben doch ein wenig zu gemütlich wirst? Ferdinand, auch wir Schwaben sind ein äußerst gemütlicher Menschenschlag und können im gegebenen Fall überraschend ungemütlich werden.«
»Ich weiß alles, liebster, bester Freund. Du wirst doch in diesen seelenlösenden Momenten nicht ein Wort auf die Wagschale legen? Christoph, ich weiß, dass du mich erkennst, mich bemitleidest, mich auslachst und mir deinen Rat und Trost nicht vorenthalten wirst. Ich habe die Überzeugung, dass du dich meiner Frau vorstellen lassen und dich ihr von deiner besten Seite zeigen und zeigen lassen wirst. O, und Miss Christabel musst du – musst du ebenfalls kennen lernen!«
»Natürlich, alter Kerle; ich werde mit ungemeinem Vergnügen mein Möglichstes tun, auf den Zehen in deinem Gynäceum aufzutreten. Da, feuchte dir noch einmal die Kehle an, du hast lange genug gesprochen. Weibertreue heißt die Etikett und i wiedherhole dir, es ischt ein ziemlich reingehaltener, recht angenehmer Weinsberger; – das nämliche Gewächs, bei welchem der alte Justinus Kerner seine Gespenster sah. Sechserle, ich sehe zum ersten Mal seit unserm Zusammentreffen wieder Geischt in deinem Auge. Weißt du, der Triarier Ruckgabele hat nicht nur deine Köchin Katharine, sondern auch deinen Hausschlüssel im Besitz und Genuss; aber ich habe den meinigen und wir gehn jetzt noch auf einen Schoppen aus dem Hause. Hoffentlich verspürst auch du ein gewisses Bedürfnis, von meinem Leben seit unsern holden Tübinger Jugendtagen zu erfahren; aber das passt mir hier in der Einsamkeit nicht so recht, wir reden davon am besten in größerer Gesellschaft –«
»O, Pechle! Wie kann –«
»Sei mir still, du kannscht!! Ich weiß, was dir gut tut, und für diese Nacht gehörst du mir mit Haut und Haar, du unglückliches, verlassenes Waisenbüble.