Die Tür wurde aufgedrückt. Mit einer kurzen Verbeugung ließ der Etagenkellner den späten Besucher eintreten.
Kammermaier war die Situation mehr als peinlich, man sah es ihm an. Als sich die Tür hinter seinem Rücken wieder geschlossen hatte, ging er auf Gräfenhan zu.
»Sei mir nicht böse, daß ich dich derart überfalle, Harald. Wir sind um Inge in großer Sorge, ist sie hier eingetroffen?«
Gräfenhan antwortete nicht sofort. Er hatte den Oberregierungsrat eigentlich immer sehr gern gemocht. Umgekehrt war es wohl genauso gewesen, es war wohl bedauerlich, daß sie beide nun wie Feinde einander gegenüberstanden.
»Die Sorge um meine Tochter ist unnötig«, sagte er hart. »Du kannst beruhigt wieder nach Hause fahren und Magdalene berichten, daß Inge in guter Obhut ist.«
»Sie ist also wirklich hier«, atmete Kammermaier erleichtert auf. Dann sah er den anderen bittend an: »Es ist eine schwere Aufgabe, die ich übernommen habe. Inge ist in großer Erregung von zu Hause fortgelaufen. Sie ist mir jedoch so sehr ans Herz gewachsen, daß ich sie nicht einem ungewissen Schicksal überlassen wollte. Wenn sie jedoch bei dir ist, dann ist ja alles gut, dann bin ich beruhigt.«
Harald Gräfenhans Gesicht wurde etwas freundlicher. Sicher war es für den alten Herrn nicht leicht gewesen, hierherzukommen.
»Nun setz dich erst mal, Franz.« Er reichte ihm die Hand. Freudig ergriff Kammermaier diese.
»Ich fürchtete schon, du würdest mich hinauswerfen«, sagte er und setzte sich.
Gräfenhan goß ihm und auch sich selbst einen Kognak ein. »Du hast dich eigentlich kaum verändert, Franz.«
Sie tranken einander zu.
»Das arme Kind«, begann der Onkel dann, »es hat einfach nicht begreifen können, daß Magdalene… hm…«
»Sprich es ruhig aus, ich bin soweit informiert.«
»Nun ja! Allerdings glaube ich, daß diese Heiratsabsicht nur ein Plan ist. Die beiden kennen sich kaum. Wenn ich schwatzhafter Kerl Inge gegenüber nicht davon gesprochen hätte, wäre es besser gewesen. Womöglich wird aus dieser ganzen Heiratsgeschichte nichts, dann war alle Aufregung umsonst.«
»Einen Augenblick, Franz. Du meinst, daß Dr. Sörensen sich dann für Inge entschieden hätte?«
»Für Inge?« fragte Kammermaier entgeistert.
»Ich glaube, wir reden aneinander vorbei. Inge ist in diesen Dr. Sörensen verliebt und hat plötzlich erfahren müssen, daß es ihrer Mutter ähnlich geht.«
Franz Kammermaier fiel aus allen Wolken. Was er da eben gehört hatte, war ja fürchterlich. Darum also war Inge so erschüttert gewesen! Jetzt begriff er überhaupt nichts mehr. Dieser Dr. Sörensen mußte ja ein toller Kerl sein! Wie konnte er es nur wagen, sich Mutter und Tochter gleichzeitig zu nähern? Oder wußte er von Inges Liebe gar nichts? Woher kannte Inge ihn überhaupt?
Zum Donnerwetter noch mal, das war ja zum Verrücktwerden! Wer sollte sich da noch durchfinden?
Harald Gräfenhan hatte ähnliche Gedanken.
»Es wird das beste sein, Franz, wenn jeder erst einmal das erzählt, was er weiß. Ich bedaure es nun doch, Inge nicht nach Einzelheiten gefragt zu haben. Sie sollte sich erst einmal beruhigen und Abstand gewinnen. Laß uns also Schritt für Schritt vorangehen, mich wollen wir dabei ganz aus dem Spiel lassen, du brauchst also keinerlei Rücksicht zu nehmen. Magdalene ist mir fremd geworden, wie könnte es auch anders sein, nach so vielen Jahren!«
Kammermaier erzählte also. Er berichtete von Inges Reise zu Dora Conradi, nannte den Grund dafür.
Und allmählich kamen sie den wirklichen Geschehnissen näher und näher.
»Ich glaube, wir können als sicher annehmen, daß Dr. Sörensen jener Mann war, den sie am Fluß kennengelernt hat«, sagte Gräfenhan.
»Und du glaubst, daß die beiden miteinander weiterhin in Verbindung blieben?« fragte Franz Kammermaier, um sich dann plötzlich gegen den Kopf zu schlagen und sich selbst die Antwort zu geben.
»Aber natürlich, Dr. Sörensen hat mir ja erzählt, daß er nach Birkenhöhe hinausfahren wollte. Axel von Dörendorf wäre ein alter Freund von ihm – das ist der Besitzer von Gut Birkenhöhe, vielleicht entsinnst du dich noch, Harald?«
»Dunkel. Jedenfalls sind damit nun die Zusammenhänge geklärt. Ich begreife nur nicht, wie du darauf kommst, daß dieser Dr. Sörensen Magdalene heiraten soll?«
Franz Kammermaier blickte lange zu Boden.
»Er nahm an einer von Magdalenes Gesellschaften teil. Sie zeigte ihm offen ihre Zuneigung. Längere Zeit gingen sie allein im Park spazieren. Später hat Magdalene mir gegenüber dann Äußerungen getan, die gar keinen Zweifel zuließen. Wenn nun alles nur von ihrer Seite ausgeht, wäre das nicht möglich?«
Harald Gräfenhan senkte ebenfalls den Kopf.
»Arme Magdalene!« flüsterte er.
Lange saßen sie schweigend beieinander. Plötzlich stand Kammermaier ruckartig auf.
»Ich fahre sofort wieder zurück«, sagte er entschlossen.
»Wenn du damit nur keinen neuen Fehler begehst!« sagte Gräfenhan, dem es klargeworden war, daß der andere ein gut Teil Schuld an der unglücklichen Verkettung der Umstände trug. »Allerdings wird es besser sein, wenn Inge dich nicht sieht. Laß dem Mädel erst mal ein paar Wochen Urlaub. Wenn Sörensen sie wirklich so liebt, wie sie ihn, dann wird sich bald alles aufklären, und Magdalene wird sich nicht die Blöße geben, gegen ihre Tochter aufzutreten. Wir wollen das alles für uns behalten, Franz.«
»Wo bleibe ich nun die Nacht über?« kam Kammermaier auf näherliegende Dinge. »Ein paar Stunden wenigstens muß ich schlafen.«
»Du findest jetzt nirgendwo ein Zimmer. Am besten wird es sein, du bleibst hier bei mir. Die Couch da drüben ist sehr bequem.«
Dankbar nahm der andere das Anerbieten an. »Morgen werde ich dann sofort zu Sörensen fahren«, erklärte er.
»Ich glaube, es ist doch besser, wir behalten dich hier, du richtest sonst neues Unheil an.«
»Inge muß wieder ein glücklicher Mensch werden«, entgegnete Franz Kammermaier.
»Hatten wir nicht gerade beschlossen, alles für uns zu behalten? Womöglich weiß Sörensen noch gar nicht, daß Magdalene ihn zu heiraten wünscht.«
»Es ist schrecklich, aber du hast schon recht. Man muß alles seinen Gang gehen lassen. Wenn ich diese alte Weisheit doch schon früher beherzigt hätte!«
*
Dr. Sörensen saß in seinem luxuriös eingerichteten Arbeitszimmer. Seit einer Stunde war er bemüht, einen wichtigen Vertragsentwurf zu überprüfen. Dann jedoch schob er das Aktenstück seufzend zur Seite.
Die Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Er fand einfach nicht die nötige Ruhe für seine Arbeit.
Immer wieder fragte er sich, woran es wohl liegen könnte, daß er seit drei Tagen ohne jede Nachricht von Inge war. Er fand tausend Gründe und sagte sich doch immer wieder, daß sie keine Entschuldigung waren.
Es mußte etwas vorgefallen sein. Woher sollte sonst die geheime Angst kommen, die ihn seit gestern beherrschte?
»Ich muß zu ihr fahren«, flüsterte er, »hier werde ich verrückt, ich halte diese Ungewißheit nicht länger aus. Ist ihr etwas passiert? Ist sie krank? Wenn ich doch einfach anrufen könnte!«
Er blickte das Telefon an. In einer Gedankenverbindung hob er den Hörer ab, ließ sich mit der Garage verbinden.
»Brugger, machen Sie sich fertig. In zwei Stunden werden Sie mich fahren müssen. Tanken Sie voll auf und sagen Sie zu Hause Bescheid, daß Sie wahrscheinlich erst morgen zurückkommen werden.«
So,