Fräulein Schank ließ lange auf sich warten. Die Schülerinnen gaben sich schon der leisen Hoffnung hin, eine Krankheit oder ein Familienunglück ihrer Lehrerin würde den französischen Unterricht heute ausfallen lassen. »Nein, es ist der Lehrerkonferenz wegen, und die kann noch lange dauern.«
War das nicht Sallys Stimme? Rosa blickte auf. Richtig! Sally saß auf Fräulein Schanks Stuhl vor dem Pulte, die Wange auf die Hand gestützt, und schaute gütig auf ihre Kameradinnen herab, die sie eifrig umringten. Als sie Rosas Blick begegnete, lächelte sie verächtlich und wandte den Kopf ostentativ ab. Eine der Schülerinnen flüsterte Sally kichernd etwas zu, sie schüttelte aber den Kopf und sagte streng: »Lassen wir das jetzt.«
Das Wort »Lehrerkonferenz« hatte Rosa erschreckt. Es klang wie ein Unglück, das ihr drohte, und sie glaubte auf Sallys Gesicht schon die Schadenfreude zu lesen. Mit einem lauten, zornigen »Klapp« schlug sie ihre Grammatik zu, erhob sich, stellte sich an das Fenster, und die Arme über der Brust gekreuzt, schaute sie Sally böse an. Allerhand Pläne gingen ihr durch den Kopf; sie wollte sich an diesen herzlosen Mädchen rächen, wollte ihnen imponieren; sie beschloss, eine große, pathetische Rede zu halten, Sally tödlich zu beleidigen – und dann schwieg sie doch.
»Unglaubliche Keckheit«, wandte sich Sally an ihre Nachbarin, »aber tut so, als wäre sie gar nicht da.«
Rosa hörte diese Worte ganz deutlich und erwiderte mit bebender Stimme:
»Ich glaube es schon, dir wäre es recht, wenn ich nicht auf der Welt wäre; wenn es überhaupt kein Mädchen gäbe, das nicht auf beiden Augen schielt.«
»Das ist zu arg!« rief Sally und schlug mit der Hand auf das Pult; weiter konnte sie nicht sprechen. Diese Beleidigung war so giftig und bitterböse, dass sie weit über die gewöhnlichen Zänkereien der Schulstube hinausging. »Die abscheuliche Person!« stöhnte Sally und begann zu weinen. Rosa aber wollte nun ihrer ganzen Entrüstung Luft machen. Die heiß in ihr aufsteigende Wut bereitete ihr eine Art Lust. »Lasst euch nur von Sally gegen mich aufhetzen«, fuhr sie fort, »ich mache mir nichts daraus; für mich existiert ihr schon lange nicht mehr. Geht, tanzt nach Sallys Pfeife! Ich brauche euch nicht. Meine Wege führen in ein anderes Reich.« Scheu blickten die Mädchen von der seltsam veränderten Rosa auf die weinende Sally. Sie fürchteten sich vor diesem rücksichtslosen Weiberhass, der sich plötzlich in die friedliche Schulstube eingeschlichen hatte. Rosa wollte noch mehr sagen. Der Zorn machte sie schön und beredt, das fühlte sie, aber Fräulein Schank erschien. Die Schülerinnen setzten sich auf die Bänke. Sally sah leidend und ergeben aus; zuweilen preßte sie die Hand auf das Herz, als litte sie dort unendlich. Als Fräulein Schank jedoch ihren elenden Zustand nicht bemerkte, erhob sie sich und bat, die Schule verlassen zu dürfen. »Gehen Sie«, sagte Fräulein Schank trocken. Sally raffte ihre Bücher zusammen und verließ das Gemach. Auf dem Weg zur Türe stützte sie sich mit zitternden Händen auf den Schultisch, um nicht zusammenzusinken, und das Öffnen der Türe machte ihr Schwierigkeiten, denn sie musste mit beiden Händen ihr Herz halten.
Der Unterricht nahm seinen regelrechten Verlauf. Fräulein Schank war ernst, aber ungewöhnlich milde. Von Rosa ward heute nichts verlangt. Den Kopf tief auf ihr Buch herabgebeugt, saß sie da und versank in ein unklares, wirres Träumen, und wenn irgend etwas sie aus ihrem Hinbrüten aufstörte, dann sah sie das altbekannte Schulzimmer seltsam an, und als der Unterricht zu Ende war, merkte Rosa es nicht und blieb sitzen; erst als ihr Name genannt ward, blickte sie auf. »Komm!« sagte Fräulein Schank feierlich, aber nicht böse. Rosa gehorchte. Draußen vor der Türe des Schulzimmers sagte Fräulein Schank milde: »Geh! Nimm deine Bücher. Dir ist heute nicht wohl. Geh nach Hause. Am Nachmittage komme ich zu euch. Behüte dich Gott!« Mit ihrer dürren Hand fuhr sie leicht über Rosas Haar. »Geh, mein Kind!« In dem allen lag etwas kummervoll Zärtliches, das Rosa die Tränen in die Augen trieb. Rosa kehrte in die Schulstube zurück, packte ruhig ihre Bücher zusammen, warf ihren Kameradinnen einen hochmütigen Blick zu und verließ die Schule; draußen aber ging es ihr, sie wusste es selbst nicht wie, durch den Kopf:
»Es ist wohl das letzte Mal, dass du drin gewesen bist?« Das rührte sie. Gefühlvoll legte sie die flache Hand auf die alte gelbe Türe, als wäre diese die Wange eines guten Freundes.
Auf der Straße fragte sich Rosa: Was nun? Nach Hause wollte sie nicht. In der engen Stube würde sie nicht Ruhe finden, das wusste sie, und dann sollte Agnes nicht wissen, dass Rosa wieder die Schule versäumte. Die alte Frau hatte sich in der letzten Zeit eine wunderlich vorwurfsvolle Art, Rosa anzuschauen, angewöhnt. Rosa entschied sich für den Stadtgarten; dort wollte sie ihre Lage überdenken. Sie zog die Augenbrauen zusammen, richtete sich stramm auf, wie jemand, der den Entschluss fasst, an eine schwere Arbeit zu gehen.
Was gab es denn? Ambrosius liebte sie, und sie liebte Ambrosius; dagegen ließ sich doch nichts einwenden. Ein Mädchen ist doch dazu da, damit es einen Mann bekommt, das weiß jedes Kind. Warum aber schickte Fräulein Schank Rosa fort? Ja – nun! Ein verlobtes Mädchen passt nicht mehr in die Schule. Rosa konnte es ganz recht sein, dass es mit dem ewigen Lernen sein Ende nahm. Das große Gouvernantenexamen brauchte sie ja jetzt nicht mehr zu machen, da sie Ambrosius heiratete. Diese Heirat löste alle Schwierigkeiten leicht und schön und sollte Rosa für alle Demütigungen reichlich entschädigen. Sally und ihr Gefolge sollten Augen machen! Rosa sah es schon, wie der Hochzeitszug sich über den Marktplatz bewegte – sah sich selbst im weißen Atlaskleide vor dem Altar stehen. Ein sehr schönes Kleid! Ganz einfacher Schnitt, vorne ein wenig kurz, damit die weißen Atlasschuhe gesehen werden können. Als einzige Verzierung ein Tablier von Brüsseler Spitzen. Sehr wenig Schmuck; nur eine Diamantriviere – »Nichts weiter«, sagte Rosa vor sich hin. Neben ihr ihr Vater, froh und rosig, Fräulein Schank, die Schar der weißen Brautjungfern. Sally war nicht darunter; nein, sie war überhaupt gar nicht geladen, sondern saß in ihrem Werktagskleide auf einem fernen Kirchenstuhl und schaute neidisch zu.
Rosa hatte sich in die Laube gesetzt und die Augen geschlossen, um sich ungestörter ihren Visionen hingeben zu können, diese Visionen wurden zu Träumen, Rosa schlief ein.
Sie erwachte vom leisen Knirschen des Sandes, als sie sich aber erschrocken umschaute, sah sie niemanden. »Es waren aber doch Schritte«, sagte sie sich. »Jemand muss hier gewesen sein.« Richtig! Neben ihr auf der Bank lag ein zusammengefaltetes Papier, das die Aufschrift »An Fräulein R. H.« trug. Hastig griff Rosa danach und öffnete es. Der Bogen war mit schönen deutlichen Schriftzügen