»So?« Rosa musste das auch sehen. Eilig erhob sie sich und streckte sich neben Ambrosius hin. So lagen sie beide auf dem Rücken, den Blick in das sanfte Blau des Himmels verloren, und bei dem starren Emporschauen zu dem lichten Raume wurden sie von einem angenehmen Gefühl des Schwindels geschüttelt und gewiegt.
»Es ist, als hinge man frei in der Luft – ganz frei – – ganz – ganz«; Rosa wiederholte dieses Wort, dehnte es, ließ es klingen, »ganz… ganz«, als wollte sie mit der Eintönigkeit ihrer Stimme der Unermeßlichkeit dort oben erwidern,
»Willst du jetzt die Geschichte hören?« sagte Ambrosius plötzlich.
»Welche?« versetzte Rosa zerstreut.
»Welche? Wie kannst du so fragen? Ich meine, ob du hören willst, was Lanins gesagt haben?«
»Ja – erzähle deine Geschichte.«
»Meine Geschichte?«
Wirklich, sagte Rosa das nicht, als ginge sie die ganze Angelegenheit nichts an? Wo hatte sie nur plötzlich diesen hochmütigen Protektionston her? Er richtete sich auf und wollte etwas sagen – schwieg aber und starrte Rosa verwundert an. Wie verzückt lag sie da – die Augen weit aufgerissen, die Lippen halb geöffnet, die Wangen heißrot und rings um sie auf der Bank das Flimmern der blonden Haare.
In Ambrosius’ Augen regten sich blanke gelbe Punkte, er kniete auf den Boden des Kahnes nieder, beugte sich über Rosa und bedeckte sie mit stürmischen Liebkosungen, die ihr wehetaten; anfangs lachte sie, noch halb bewusstlos vom Emporstarren, sie wehrte sich nur matt und stieß kurze ausgelassene Rufe aus, wie ein Schulmädchen, das sich mit seiner Kameradin hetzt; plötzlich aber ward sie ernst, stellte sich gerade auf die Füße, strich sich das Haar aus dem heißen Gesicht und sagte leise: »O nein!«
»Nein – nein«, wiederholte Ambrosius. Er kniete noch auf dem Boden des Kahnes, ließ die Arme schlaff niederhängen und hob zu Rosa ein böses und dennoch klägliches Gesicht auf, wie ein Kind, dem man sein Spielzeug fortgenommen hat. »Warum nicht?« fragte er. Rosa blickte zur Seite und streifte nachdenklich die Blätter von den Erlenzweigen, endlich lächelte sie wieder, strich die Falten ihres Kleides glatt und setzte sich auf die Bank. »Komm! Sei vernünftig! Erzähle, was haben Lanins gesagt?« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm seine Hände in die ihren und streichelte sie: »Komm« – sie versuchte es, ihn an den Rockaufschlägen emporzuziehn. Er aber fand in ihr wieder jene überlegene Protektionsmiene, die ihn verdroß und der er sich – er fühlte es wohl – dennoch beugen musste. Seufzend ließ er sich emporziehen, ließ sich den Hut aufsetzen und die Krawatte zurechtrücken und nahm die ruhige, einschmeichelnde Zärtlichkeit, die Rosa über ihn breitete, mit der Würde eines Pascha entgegen.
»Erzähle also.«
Ambrosius ließ sein weltmännisches Räuspern hören, um sich wieder die vornehme Haltung eines ernsten Kommis zu geben, und lächelte verächtlich: »Gott, Lanins! Ich kümmere mich verdammt wenig darum, was die sagen!«
»Was ist denn geschehen?«
»Nun, ihre Gesichter waren sauer genug. Ich sah sie erst beim Nachtmahl. Der Onkel, die Tante und Sally saßen um den Tisch mit Gesichtern – so traurig, als läge ein Toter statt des Kalbsbratens auf der Schüssel. Ich wurde natürlich sehr kühl empfangen, und während des Essens sprach keiner; nur die Tante flüsterte zwei, drei Mal: ›Nimm doch, Ambrosius! Hier ist Butter, Ambrosius! Ich will, dass jeder Hausgenosse genug hat – unter allen Umständen.‹ Gott, und wie sie das herausbrachte! Scheußlich!«
»Und Sally?« fragte Rosa.
»Sally war noch immer in ihrer Nachtjacke und mit den Knollen. Sie war sehr erhitzt; ich glaube, sie hatte geweint. Appetit hatte sie keinen, das weiß ich! Allerhand kleine Speisen standen für sie ganz allein auf dem Tisch, und die Tante jammerte: ›Kind iss, nimm davon; es wird dir guttun.‹
Sally aber schüttelte nur den Kopf und seufzte. Nicht um eine Million, glaube ich, hätte sie vor mir einen Bissen über die Lippen gebracht. Das sollte rührend sein. Auf mich hat es gar keinen Eindruck gemacht. Gemütlich war die Lebenslage nicht, das kannst du dir denken. Gleich nach dem Nachtmahl wollte ich verschwinden, da flötete die Tante: ›Lieber Ambrosius, der Onkel hat mit dir zu sprechen‹, dabei schaute sie den Onkel an, als wollte sie sagen: ›Nun – marsch – vorwärts.‹ Die dumme Sally nickte dazu. Im Zimmer des Onkels ging die Predigt an. Dreiviertel Stunden hat er gesprochen, ganz glatt. Ich glaube, er hatte es aufgeschrieben und auswendig gelernt. Was er da sagte, habe ich natürlich nicht behalten. Von der Würde des Hauses war die Rede, dann lobte er sich selbst, endlich die Sally.«
»Von mir war nicht die Rede?«
»Warte nur, dann kam deine Reihe. ›Eine junge Person‹, sagte er, ›die ihrer eigenen Würde uneingedenk, meiner Seel’!‹ Er sagte uneingedenk, wo der das nur her hat? ›Eine Person, die wir aus dunklen Verhältnissen in unsere Kreise gezogen haben, und zwar aus Mitleid, hat dich zu einem unbedachten Schritt verleitet. Ich hoffe, du wirst einsehen, dass diese junge Person, nach den letzten Ereignissen, zu tief steht, um der geeignete Umgang für den Neffen des Hauses Lanin zu sein. Ich hoffe, du wirst einsehen, dass das Unmoralische eines solchen Verhältnisses dich kompromittiert, mich kompromittiert, uns kompromittiert.‹«
Ambrosius ahmte seinen Onkel ganz treffend nach, dabei erließ er Rosa jedoch nichts von all den Beleidigungen, die Herr Lanin gegen sie ausgestoßen hatte. Vielleicht war das eine Art Rache für die Protektionsmiene und für die Macht, die das Mädchen sich über ihn angeeignet hatte. Aber als er bemerkte, dass Rosas Augen voller Tränen standen, ward er bestürzt. »Du wirst doch nicht über solchen Unsinn weinen?« rief er hastig.
»Das könnte mir einfallen!« erwiderte Rosa und lächelte; die Tränen aber hörten nicht auf zu fließen. Ambrosius’ Erzählung betrübte sie, es schien ihr, als erniedrigten Lanins Worte sie vor Ambrosius, als könnten sie diese von ihm trennen, und ohne ihn – was dann? Traten die großen, schönen Ereignisse nicht ein, die sie erwartete, an die sie fest glaubte; ging Ambrosius und ließ sie allein, oh, dann fielen Lanins, Klappekahls – alle über sie her, hetzten und beschimpften und quälten sie; dann wurde sie eine niedrigstehende Person. Nein! Ambrosius durfte sie nicht verlassen, auf ihn war ihr Leben gestellt – das verstand sie plötzlich und umklammerte ihn fest. Ambrosius war tief gerührt, es schmeichelte ihm, dass Rosa so leidenschaftlich von ihm Besitz ergriff, und dennoch mischte sich in dieses Gefühl ein