Jenseits der Erlenbüsche ward der Fluss breiter, zu beiden Seiten dehnte sich flaches Land aus, abgemähte Wiesen, hie und da ein Kornfeld, wie ein Stück gelber Seide, in der Ferne ein Dorf, in dem rote Lichtpünktchen erwachten. Immer mehr weitete der Fluss sich aus. Die Blätter der Wasserrosen bildeten blanke Inseln auf dem Wasser, oder eine Gesellschaft von Schachtelhalmen stand beieinander – viele dünne grüne Linien. Das Gewirre der Pflanzen nahm zu. Wasseriris, Kalmusstauden, Kolbenrohr gesellten sich zu den Schachtelhalmen und Wasserrosen, der ganze Fluss war nur noch ein weites Feld für diese wunderlichen Halme, allerort spitze, zitternde Blätter und Stengel, weit – weit – bis dort an die Wiese, die voller Vergissmeinnicht und Ried stand.
In dem Röhricht festgefahren, fast ganz von ihm überdeckt, hielt der Kahn; er konnte nicht weiter. Rosa jubelte. Hier war es schön! Nichts als nickende grüne Spitzen und ein heimliches Flüstern. Hinter dem schwarzen Streif des fernen Waldes stieg der Mond auf – übergroß, und dichte Wolkenstriche legten sich horizontal über den Himmel, schmal und rot, wie Messerstiche. Vor diesem gewaltsamen Aufleuchten wurden die Sterne matt und flimmerten ängstlich.
»Ganz prächtig!« bemerkte Ambrosius. »Hier kann man in des Wortes verwegenster Bedeutung sagen: großartig.«
Schön war es, und dennoch machte es das Herz schwer. Rosa lehnte ihren Kopf an Ambrosius’ Schulter und blickte stumm den fortflatternden Enten nach. Als Ambrosius sich räusperte, um eine Rede zu halten, legte sie ihm die Hand auf den Mund. Schweigen wollte sie; dasitzen und zusehen, wie der Mond langsam den Himmel hinaufstieg, wie die Nacht sich über das Land breitete, wie die Spitzen des Rohrs dunkel und regungslos wurden; lauschen wollte sie den Tönen ringsum, dem Gurgeln des Wassers, dem schläfrigen Singsang des Erdkrebses, lauschen und nichts denken. Jenseits dieser stillen, verträumten Welt lag etwas Hartes, Schmerzhaftes, an das Rosa nicht denken mochte. Immer hätte sie so dasitzen mögen, zugedeckt von grünen Halmen, eingeschläfert vom halblauten Sprechen der Sommernacht.
Ambrosius hatte den Arm um die Schultern seiner Geliebten gelegt. Der Mond, die schöne Nacht begeisterten ihn und machten ihn zärtlich; der starke Duft der Wasserpflanzen, die grüne Dämmerung, in die das Schilf den Kahn hüllte wie grüne Vorhänge ein Ehebett, das heimliche Rauschen, das wie heimliches Küssen, wie abgerissene Laute eines lüsternen Geheimnisses klang. All dieses stieg ihm zu Kopf, erhitzte sein Blut. Mit heißen Lippen und zitternden Händen tastete er an dem Mädchen hin. Rosa wehrte ihn ruhig ab. »Still!« sagte sie. »Sieh, Amby, du musst das nicht tun. Sie sollen nicht recht behalten. Wenn du wüsstest, wie traurig ich bin, wie sehr ich mich vor morgen, vor Lanins, vor allem fürchte, du würdest nicht solche Dummheiten machen. Weißt du, wir müssen fort, ganz fortgehen, dann tue ich alles, was du willst. Aber zuerst fort; wir beide ganz allein. Du heiratest mich schnell, und wir gehen in eine große Stadt, wo du Dichter werden kannst. Nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Ambrosius ein wenig betroffen.
»Morgen schon kommst du zu uns und sprichst mit Papa«, fuhr Rosa eifrig fort. Dieses Mädchenhirn, mit seiner Virtuosität im Träumen und Pläneschmieden, hatte sich bereits alles zurechtgelegt. Lanins sollten sehen, dass sie nicht tief unter Ambrosius stand; geachtet, reich und glücklich wollte sie sein.
Ambrosius nahm diese Eröffnungen mit Unbehagen entgegen. Es ging ihm durch den Sinn, dass er diese Sache anders aufgefasst habe, als Rosa sie zu nehmen schien. Er sah Schwierigkeiten, Streit, allerhand Widerwärtigkeiten daraus entstehen. Aber das schöne Mädchen an seiner Seite erregte zu sehr seine Sinne, er fühlte sich wie im Rausch, und wie im Rausch erschien ihm jedes Hindernis klein und jedes Unternehmen ausführbar. Um Rosa zu besitzen, konnte er alles tun, das war sein einziger klarer Gedanke. »Ja – wenn du denkst«, sagte er leise. Er hätte zu allem ja gesagt.
»Wir wollen uns sehr – sehr liebhaben«, versetzte Rosa feierlich. Ambrosius tat ihr leid; wie betrübt er dasaß, mit seinen roten Wangen und heißen Händen.
»Du darfst nicht traurig sein«, tröstete sie ihn und küsste mütterlich seine Stirne, dann mahnte sie zur Heimfahrt.
Mühsam musste der Kahn sich aus dem Gestrüpp hinausarbeiten. Wie harte, kalte Finger schlug das Schilf an Rosas Gesicht und badete es in Tau. Im Fahren pflückte sie Wasserrosen, die schwer von Tropfen waren, und wenn Rosa ihre Hand in das Wasser tauchte, mitten in die Pflanzendecke hinein, erschrak sie, denn die schlüpfrigen Wurzeln waren weich und lau wie Menschenhände.
Mit großem Kraftaufwand musste Ambrosius gegen den Strom rudern, und er verrichtete seine Arbeit schweigend und ingrimmig. Plötzlich schaute er auf und sagte: »Du meinst also, wir sollen fort?«
»O ja, weit fort!«
»Gut.«
Rosa lächelte; gewiss, sie wollte noch sehr glücklich werden.
Fünfzehntes Kapitel
Die Morgensonne brannte unerbittlich auf das unregelmäßige Pflaster der Schulstraße nieder, auf die grauen Latten der Zäune, auf die kläglich bestäubten Baumzweige, die aus den Gärten auf die Straße niederzulangen wagten. So einsam, so drückend schwül wie heute war diese Straße Rosa noch nie erschienen. Müde die Schultasche hin und her schwenkend, ging Rosa auf das Schulgebäude zu. Es war ein schwerer Gang! Dieses rote Haus mit den grünen Fensterläden, den herabgelassenen Vorhängen, den tintebefleckten Papierfetzen, die sich auf den Treppenstufen herumtrieben, es erfüllte sie mit Widerwillen und Bangen. Wann war es? Wie lange war sie nicht dort gewesen? Sie rechnete nach. Unmöglich! Nur drei Tage? Es schien ihr eine Ewigkeit zu sein. In diesen drei Tagen war aus der ausgelassensten Schankschen Schülerin ein sehr ernstes Mädchen geworden, das die wunderlichsten Pläne und ein schweres Herz mit sich herumtrug.
An der Treppe zögerte Rosa. Eine kleine rote Hand schob den Vorhang zurück, zwei braune Augen schauten heraus, verschwanden wieder, und gleich darauf regten sich alle Vorhänge, und hinter allen spähten neugierige Mädchenaugen hervor. »Warum tun sie so ängstlich?« fragte sich Rosa, »sollte Fräulein Schank schon da sein?« – Sie trat in das Schulzimmer. Die Mädchen standen in Gruppen an den Fenstern oder saßen auf den Bänken und Tischen beieinander. Rosa sah es den Stellungen und Mienen sofort an, dass etwas Interessantes vorgefallen war. So pflegte es in der Schulstube auszusehen, wenn irgendein Ereignis die Mädchenköpfe erhitzte. Jetzt herrschte tiefe Stille, alle Augen richteten sich auf Rosa, und in diesen neugierigen,