»Doch«, sagte Rosa, und ihre Stimme nahm eine erzwungene Festigkeit und Ruhe an. »Ich komme mit Ambrosius Tellerat zusammen, weil ich mit ihm verlobt bin.« Tiefe Stille folgte dieser Erklärung; nur die alte Wanduhr ließ ihr asthmatisches Tiktak vernehmen.
»Davon habe ich nichts gewusst«, ergriff Herr Herz endlich kleinlaut wieder das Wort.
»Ich wollte es dir heute sagen«, antwortete Rosa, und nun – den Kopf auf die Sofalehne zurückgeworfen, die Füße von sich gestreckt – begann sie, dem ganzen Unwillen, allem Ärger, all der Angst, die sie den ganzen Tag über mit sich herumgetragen hatte, in der unlogischen, übersprudelnden Weise weiblicher Beredsamkeit Luft zu machen. Natürlich! Der Vater hatte es sich auch von der Schank einreden lassen, dass sie mit Ambrosius weiß Gott was für Sachen trieb, dass sie ein schlechtes, leichtsinniges Mädchen sei. Wenn alle auch übel von ihr dachten, so hatte sie doch wenigstens gehofft, von ihrem Vater verstanden zu werden. Hunderte von Mädchen verlobten sich jedes Jahr, nur sie – Rosa – durfte es nicht; bei ihr war es ein Verbrechen. Und warum? Weil Sally Ambrosius heiraten wollte. Aber welches Recht hatte Sally auf Ambrosius? Hatte sie ihn vielleicht gepachtet? Konnte sie ihn zwingen, ein widerliches schielendes Mädchen zu lieben? Nein! Ambrosius liebte Rosa – und Rosa liebte Ambrosius, das war doch einfach genug. Oder war es vielleicht etwas so Ungeheuerliches, dass jemand Rosa Herz heiraten wollte? Gleichviel! Geschehen würde es doch. Als Rosa auf den Höhepunkt ihrer Rede gelangt war, brach sie in Tränen aus, schluchzte laut und eigensinnig, wie ein ungezogenes Kind.
»Rosa – Kind, weine nicht!« versuchte Herr Herz sie zu beruhigen. »Ich sage ja nichts! Ich berichte dir nur, was die Schank mir erzählt hat. Aber du gerätst gleich in Feuer – und nun dieses Weinen! Was hab ich denn gesagt? Ich habe es nicht gewusst, dass ihr miteinander verlobt seid. Wenn das so ist, wie du sagst, werde ich mich darüber freuen.«
»Du glaubst doch nicht an die Heirat!« warf Rosa ein und weinte fort.
»O ja! Warum nicht! Wir werden ja sehen! Nur müssen diese Angelegenheiten besprochen und bedacht werden. Mit dem unverständigen Weinen richten wir nichts aus. Weine nicht, sei vernünftig! Wenn man heiraten will, muss man gescheit sein. Komm!«
Rosa richtete sich auf. »Was sagt denn eigentlich die alte Schank?« fragte sie.
»So gefällst du mir!« Herr Herz versuchte es, seiner Stimme einen munteren Klang zu geben. »Nun – sie erzählt, heute morgen ist Lanin bei ihr gewesen, um ihr mitzuteilen, man habe dich und den jungen Tellerat zusammen gesehen – beim Trödler, glaube ich – und dann noch beim alten Raute. Allerhand böse Dinge spricht man in der Stadt von euch. Kurz: Lanin verlangt, die Schank soll dich aus der Schule ausschließen, sonst nimmt er seine Tochter fort, und viele andere tun es auch.«
»Die Schank hat es ihm natürlich zugesagt«, schaltete Rosa bitter ein. »Oh, sie kann unbesorgt sein! Ich gehe ohnehin nicht mehr zu ihr.«
»Ereifre dich nicht, Kind! Wir wollten die Sache ja ruhig besprechen. Der Schank gehen diese Geschichten sehr nah; sie liebt dich wie ihr Kind. Aber was kann sie tun? Sie hat mit Lanin auch über die mögliche Heirat gesprochen. Nun er – hat sich ungünstig darüber ausgesprochen, hat nichts davon wissen wollen und hat – wie die Schank sagt – behauptet, der junge Mann habe ihm – Lanin – versprochen, dich nicht zu heiraten.«
»Das ist nicht wahr!«
Herr Herz hatte den letzten Teil seines Berichtes unsicher und leise vorgebracht, jetzt fuhr er hastig fort, um die böse Sache schnell abzumachen: »Hör mich nur bis zu Ende. Ich hoffe auch, es wird nicht so sein, wie die Schank es darstellt. Lanin hat ferner gesagt, sein Neffe reise morgen oder übermorgen ab, und damit – so meint Lanin nämlich – soll die Affäre ihren Abschluss finden. Warte, unterbrich mich nicht. Die Schank sagt nun, du seiest nicht ganz vorsichtig gewesen, und darin hat sie recht, du bist gewiss nicht vorsichtig gewesen«, wiederholte Herr Herz mit einem Anflug väterlicher Strenge. »Sie meint also, du sollst fort – für einige Zeit wenigstens. Hier in der Stadt werden die Leute dir Unannehmlichkeiten bereiten. Sie hat erfahren, dass ein junges Mädchen als Bonne für eine russische Kaufmannsfamilie gesucht wird. Da hat die Schank gleich an dich gedacht.« Dem armen alten Mann kostete es Mühe, seine Bewegung zu verbergen, und obgleich ihm die Tränen über die Wangen liefen, fügte er doch munter hinzu: »Was meinst du, Kind? Reisen. – Die Welt sehen?«
»Ich – eine Bonne!« fuhr Rosa auf. »So etwas kann sich auch nur diese Alte ausdenken.«
»Warum? Eine Bonne ist doch nichts Schlechtes. Oder nenne es Gouvernante, Gesellschafterin – wie du willst.«
»Ich danke schön.«
Herr Herz war in Verzweiflung. Der kurzen, mit tiefer Stimme gesprochenen Antwort hörte er es wohl an, wie sehr er seine Tochter verletzt hatte. Nun sollte er sie noch zu diesem Plan überreden, der ihm selbst fast das Herz brach. Was konnte er tun? Rosas Leichtsinn, all das Schlimme, was die Leute ihr nachsagen und antun würden, bereitete ihm arge Pein. Gerade weil er sich den größten Teil seines Lebens in einer Welt bewegt hatte, in der es mit der weiblichen Tugend so wenig genau genommen wurde, gerade deshalb erfüllten ihn die strengen Grundsätze der solid bürgerlichen Gesellschaft mit um so größerer Achtung, jener Gesellschaft, in die aufgenommen worden zu sein der Triumph seines Lebens war. Nun wollte diese bewunderte Gesellschaft seine Rosa verstoßen. Sein Kind sollte dieser Gesellschaft unwürdig sein. Hatte Rosa sich nicht ganz an die Regeln der Sittsamkeit gehalten, wie ein gutes Bürgermädchen es muss, fiel nicht der größte Teil der Schuld auf ihn zurück? Der alte Ballettänzer, dessen höchstes Ideal es war, ein tadelloser Spießbürger zu sein, glaubte zu sehen, wie in Rosa etwas von seiner ungeordneten Vergangenheit erwachte, und er sagte sich: »Wird dieses Kind kein braves, geachtetes Bürgermädchen wie Sally Lanin und Ernestine Klappekahl, so bist du daran schuld, denn du vermochtest ihr keinen braven, geachteten Bürger zum Vater zu geben.« Aber wie allen schwachen Gemütern mit reger Einbildungskraft gelang es Herrn Herz, bald über diese traurigen Gedanken hinwegzukommen. Warum sollte Ambrosius Rosa nicht heiraten? Ein vernünftiger Grund war dagegen nicht vorzubringen. Und kam die Heirat zustande, dann war ja alles