Sechzehntes Kapitel
Als der Ballettänzer am folgenden Morgen vor dem Spiegel stand und nachdenklich sein spärliches Haar bürstete, verspürte er nichts mehr von der guten Laune des vorigen Abends. Seufzend holte er den schwarzen Visitenrock aus dem Kasten, zog ihn langsam und zögernd an; dann beschäftigte er sich noch eine halbe Stunde damit, seinen Hut zu reinigen, und trat endlich, da es doch sein musste, den sauern Weg an. Dazu kam heute eine niederschlagende, unbehagliche Witterung. Der Himmel war ganz mit gleichmäßig hellgrauen Wolken bedeckt, und in der Luft herrschte eine schwüle Ruhe. Tage, die keinen ordentlichen Sonnenschein hatten, verstimmten Herrn Herz immer; nun noch unter diesen Umständen!
Er schellte an der Laninschen Haustüre, und während er draußen wartete, zogen sich die greisen Haarbüschel über seinen Augen zusammen, und sein armes, sorgenvolles Gesicht ward ganz rot. Das kleine Dienstmädchen öffnete endlich. »Ist der Herr Bürgermeister zu Hause?« fragte Herr Herz.
»Jawohl, bitte nur näherzutreten.«
Das Dienstmädchen verschwand und ließ den Ballettänzer im Salon allein, in diesem Salon, der mit seinen Möbeln in weißkalikot Überzügen, mit seinem blankgebohnerten Estrich, seinen ernsten Fotografien, mit seiner ganzen soliden Steifheit dem alten Mann das Herz schwermachte. Eine Türe öffnete sich halb, und Frau Lanins Kopf, von der Nachthaube bedeckt, zeigte sich und verschwand wieder. An einer anderen Türe machte sich Fräulein Sally bemerkbar durch das Rauschen und Flattern weißer Unterröcke. Nach einigen Minuten kehrte das Dienstmädchen zurück und bat Herrn Herz, in die Stube des Herrn hinüberzugehen.
Da saß der Herr in seiner Stube vor dem großen Schreibtisch. Der kaneelbraune Schlafrock mit den kirschroten Sammetaufschlägen war – der Hitze wegen – offen und ließ die breite Brust des Chefs der Firma Lanin sehen. Das Gesicht war vom Schlaf noch bleich und geschwollen, die Stimme belegt. »Ich habe die Ehre, lieber Herz. Ich weiß es schon, was Sie so früh zu mir führt.« Indem Herr Lanin dieses im Ton feierlichen Beileids dem Ballettänzer entgegenrief, reichte er ihm eine dicke, lauwarme Hand.
»Ja, ja; das ist’s«, erwiderte Herr Herz.
»Gut! Setzen Sie sich.«
Herr Herz setzte sich auf Conrad Lurchs Rohrstühlchen.
»Es ist schlimm«, begann Herr Lanin und schaute mit seinen kleinen, glanzlosen Augen zum Fenster hinaus. »Recht traurig! Was gedenken Sie zu tun? Sie wollten meinen Rat einholen; ich verstehe. Aber, da ist schwer raten. Wie Fräulein Schank mir sagt, hat sich eine Stelle für Ihre Tochter gefunden, als Bonne, glaube ich. Das wäre ja günstig.«
Bei Lanins Worten begriff Herr Herz erst Rosas Entrüstung, als er ihr den Vorschlag gestern gemacht hatte, denn das Wort »Stelle« klang im Munde des Bürgermeisters wie etwas sehr Gemeines – und nun noch »Bonne« – mit seinem knallenden B und dem widrig nachschnurrenden Doppel-N. Herr Herz stützte die Ellenbogen auf die Knie, faltete die Hände, schloss die Augen, wie er es zu tun liebte, wenn er ernst sein wollte, und rückte mit dem Vortrage heraus, den er sich mühsam heute morgen eingeprägt hatte.
Fräulein Schank hatte auch ihm – Herz – ihren Plan mitgeteilt. Bevor er aber in eine Trennung von seinem einzigen Kinde willigte, bevor er sich dazu entschloss, Rosa in weite Ferne und in eine unsichere Zukunft hinauszusenden, wollte er es versuchen, der Sache eine andere, glücklichere und natürlichere Wendung zu geben, und deshalb hatte er Lanin aufgesucht. Herr Herz hielt einen Augenblick inne, öffnete die Augen und sah Lanin scheu an. Dieser hörte ruhig zu. Er schien dabei scharf zu denken, denn er zog die Augenbrauen leicht zusammen und kniff die Augenlider ein; seine Lippen umspielte ein feines Lächeln, als hätte er den Sprecher bereits bei einem logischen Fehler ertappt. Herr Herz wollte sich nicht einschüchtern lassen. Er schloss wieder die Augen und sprach weiter, er kannte die Schuld und die Unvorsichtigkeit seiner Tochter wohl, trug er doch selbst einen Teil dieser Schuld, denn seine Erziehungsmethode mochte eine verfehlte, seine Wachsamkeit eine mangelhafte gewesen sein. Mein Gott, wo sollte er auch die rechte Methode, junge Mädchen zu erziehen, herhaben? Ja, wenn die Schwester Ina noch lebte, da wäre manches anders gekommen! Trotz alldem hatte der junge Mann doch auch eine Verantwortlichkeit auf sich geladen, hatte eine Schuld zu sühnen. Ein junger Mann von Geist und Welt hatte einer kaum siebzehnjährigen unerfahrenen Kleinstädterin gegenüber immer leichtes Spiel. Herr Lanin machte eine abwehrende Handbewegung; er war offenbar wieder einem logischen Schnitzer auf die Spur gekommen.
»Ich weiß es«, fuhr Herz fort, »dass zwischen den beiden Kindern wirkliche Neigung besteht. Ambrosius Tellerat hat die Absicht, Rosa zu heiraten, klar und deutlich ausgesprochen, und wie die Sachen liegen, kann und will ich ihm die Hand meiner Tochter nicht verweigern. Mit einer Heirat aber wird die jetzt so traurige Angelegenheit, meine ich, einen für alle segensreichen Abschluss finden.« Herr Herz war mit seiner Rede zu Ende und blickte jetzt zögernd auf.
Lanin saß noch immer ruhig da und lächelte. Er sah weder entrüstet noch erzürnt aus; er schaute vielmehr drein wie jemand, der an einem schwierigen Problem ein rein sachliches, geistiges Interesse nimmt. »Indem Sie von der Heirat – sprechen«, begann er langsam, wieder am Ballettänzer vorüber zum Fenster hinausgehend, »haben Sie allerdings das punctum saliens – wie der Lateiner sagt – der Sache getroffen. Nur scheint es mir, Sie fassen dieses punctum anders als ich und daher nicht ganz richtig – ganz konsequent auf.« Er hielt inne und blinzelte mit den Augenlidern. »Nein, nicht ganz konsequent«, wiederholte er nach reiflicher Überlegung. »Vom allgemeinen moralischen Standpunkt mag solch eine – Sühne – wie Sie sagen – zu verteidigen sein – vom allgemein moralischen – bitte! Die allgemeinen Moralgesetze erleiden aber durch unsere gesellschaftlichen Gesetze eine Modifikation – eine Veränderung.