»Ich weiß doch nicht…« protestierte Herr Herz leise.
»Doch – doch«, unterbrach ihn Herr Lanin. »Ist sich auch nicht ein jeder dieses Gesetzes klar bewusst, dazu besitzt nicht ein jeder die analytische Übung, so fühlt es doch ein jeder. Ihnen, lieber Herz, würde es nicht anders gehen, wären Sie im beständigen Konnex mit der höheren bürgerlichen Gesellschaft geblieben. Dieses Gesetz ist auch der Grund, warum mein Schwager nie dieser Verbindung seine Zustimmung geben würde, wenn ihm auch nicht anderweitige Pläne, die er mit Ambrosius hat, im Wege stehen würden. Nie – nie!« Herr Lanin machte mit der Hand einen vertikalen Schnitt durch die Luft. »Mein Neffe reist morgen ab, und damit ist für diese unangenehme Verwickelung die einzig vernunftgemäße, ich möchte sagen – ideal-ethische Lösung gefunden.« Herr Lanin machte einen Querschnitt durch die Luft, und damit schien die Sache wirklich vollkommen logisch und – hoffnungslos erledigt zu sein.
Herr Herz erhob sich. Lanins bunte Redensarten verwirrten ihn. »Also – Herr Direktor – wenn Sie meinen…« Er war in so jämmerlicher Verfassung, dass er Direktor statt Bürgermeister sagte und dass es ihm vorkam, als wäre er wieder der arme Komödiant, dem der Direktor sein mageres Honorar vorenthielt.
»Leben Sie wohl«, sagte Lanin herzlich. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Der allmächtige Weltenordner wird alles zum besten wenden.«
Herr Herz trocknete sich die Tränen aus den Augen. Der väterliche Abschied des Bürgermeisters rührte ihn. »Oh, ich danke – Lanin – ich danke«, damit ging er hinaus.
Im Salon huschten wieder Fräulein Sallys weiße Röcke um die Türflügel – wieder zeigte sich Frau Lanins großes, bleiches Gesicht in der halbgeöffneten Schlafkammertüre.
Herr Herz pilgerte nun zu Klappekahl. Der scharfsinnige Apotheker, der Weltmann, wusste bestimmt Rat.
Die Apotheke war dermaßen überfüllt, dass Klappekahl und Zapper nicht wussten, wo ihnen der Kopf stand. »Ah Herz, das ist charmant. Ich stehe sogleich zur Verfügung«, rief der Apotheker. »Gehen Sie, bitte, ins Wohnzimmer hinüber. Sie finden dort die Ernestine. Konversieren Sie mit ihr ein wenig. Ich muss diese Leute abfertigen. Ich weiß nicht, was das ist, eine Riesenobstruktion hat sich auf die Stadt geworfen. Bitterwasser und Rizinus – sonst nichts! Jetzt – zur Zeit der Früchte! Unbegreiflich!« Klappekahl flog davon.
Herr Herz fand im Wohnzimmer allerdings Ernestine; sie erhob sich jedoch, als er eintrat, grüßte steif und verließ das Zimmer. Es dauerte eine geraume Weile, bis der Apotheker Zeit fand, sich seinem Freunde zu widmen, und als er kam, war er atemlos und erhitzt. »Es ist fabelhaft, wie es heute morgen hier zugeht. Alles schreit nach Abführungen. Es wäre interessant, dieser Erscheinung auf den Grund zu kommen.« – Als er die betrübte Miene seines Gastes bemerkte, ward er ruhiger. »Ja so! Ich habe gehört. Armer Freund!« Er drückte Herrn Herz gefühlvoll die Hand. »Aber was tun! Man muss sich in alles schicken.«
»Ich komme zu Ihnen, lieber Klappekahl«, meinte Herr Herz, »ich dachte mir, Sie werden vielleicht etwas wissen.«
»Ja – lieber Freund«, erwiderte der Apotheker und strich sinnend mit der Hand über sein Kinn. »Ein schwieriger Fall! Nun – aber – aber – – das Schlimmste ist doch noch nicht geschehen?«
»Wie, das Schlimmste?«
»Ich meine, nur kleine Unvorsichtigkeiten liegen vor? Ach Gott! In einer Großstadt hätte das nichts auf sich, da lacht man über dergleichen; aber in unserem Neste wird aus der Mücke ein Elefant. Ich – persönlich – habe über solche Dinge meine selbständige, freiere Anschauung; aber schließlich muss man sich dem Milieu, in dem man lebt, fügen. Sehen Sie, meine eigene Tochter weicht von meiner Auffassung ab. ›Deine Ansicht ist eng, Ernestine‹, sagte ich ihr gestern. Was wollen Sie, das Mädchen steht eben auf dem Standpunkt der Gesellschaft, in der es lebt. Und näher besehen – ist denn die ganze Affäre ein so großes Unglück? Ein hübsches, intelligentes Mädchen wie Rosette – haha – ich nenn sie immer Rosette – das kommt überall fort. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Theater? Haben Sie daran schon gedacht?«
»Nein!« entgegnete Herr Herz erstaunt. Daran hatte er wirklich nicht gedacht – und jetzt machte dieser Gedanke auf ihn nur einen peinlichen Eindruck. Sein mühsames, ärmliches Komödiantenleben schwebte ihm vor, und es erschien ihm wie ein Hinabsteigen, wie ein Verlust an Würde, wenn aus der soliden Schankschen Schülerin eine Theaterprinzessin werden sollte.
»Das wäre doch so ungünstig nicht«, fuhr der Apotheker fort und lächelte schalkhaft. »Was würde Rosette dazu sagen?«
»Sie! Mein Gott! Sie sagt, sie will ihn heiraten.«
Klappekahl ließ ein leises Pfeifen hören und kratzte sich mit dem kleinen Finger den Scheitel. »Das ist etwas anderes. Aber – offen gesagt – wenn die Eltern des jungen Mannes ihr Veto einlegen, wenn er selbst nicht daran will, was können Sie tun? Zum Heiraten kann niemand gezwungen werden.«
»Er hat es ihr versprochen«, wandte Herr Herz kläglich ein.
»Baba! So etwas tut man im Jugendeifer. Wer von uns hat das nicht getan? Hand aufs Herz! Sie – und ich – als wir jung waren, in einer Weltstadt lebten, haben wir da geglaubt, dass wir durch solche kleine Galanterien irgendwelche Verbindlichkeit übernehmen? Nein – also! Seien wir gerecht. Wie wollen Sie nun den jungen Mann zwingen? Ein Duell? Ja, in einer großen Stadt, da wäre auch das möglich; ich selbst würde mich Ihnen ohne weiteres zum Sekundanten anbieten; ich weiß, wie solche Affären ausgetragen werden. Aber hier? Unmöglich!«
»Unmöglich!« wiederholte Herr Herz tonlos. »Sie meinen also auch, das Kind soll fort?«
»Es wird nicht anders gehen, mein armer Freund.« Klappekahl reichte dem Ballettänzer beide Hände. »Unsere Freundschaft bleibt ungetrübt. Wir beide haben ein Stück Welt gesehen und wissen, was wir von den kleinstädtischen Vorurteilen zu halten haben.« Zapper unterbrach das Gespräch. »Herr Prinzipal, es muss Gummi arabicum aus dem Magazin geholt werden.«
»Mein Gott! Jetzt tritt die Reaktion ein. Die Stadt ist wie behext. Ich muss fort. Sie entschuldigen. Kann ich Ihnen sonst helfen – Sie wissen – mit dem größten Vergnügen. Morgen gebe ich eine kleine Soirée, so etwas zerstreut. Ich rechne auf Sie. Nur ältere Leute, Sie verstehen – sonst wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Rosette bei mir zu sehen. Grüßen Sie das liebe Kind von mir. Arrivederci!