Nachdem sie den Morgen über in ihrem Zimmer auf dem Sofa gelegen hatte, um nachzudenken, entschloss sie sich, um zwölf Uhr auszugehen. Die Zeit des großen Sonnenscheins war ja ihre Stunde. Das Laninsche Haus, Wulfs Laden vermeidend, ging sie über den Marktplatz und irrte in entlegenen kleinen Gassen umher, die heiß und leer zwischen niedrigen Holzhäusern und Gemüsegärten lagen. Oft blieb Rosa stehen, lehnte sich an einen Gartenzaun und schaute die Reihe der Salatbeete entlang. Eine Wolke weißer Schmetterlinge wogte über den krausen Blättern. In den Nesseln am Zaun regten sich zahllose Hummeln und sandten ihr eigensinniges Brummen zu Rosa empor. Seltsam! Dieses Gärtchen mit seinem gelben Sonnenschein verstimmte Rosa, raubte ihr das erwartungsvolle Festtagsgefühl, dem sie heute morgen noch nachgeträumt hatte. Ambrosius’ Liebe war als etwas Neues und Hübsches in ihr Leben hineingekommen; etwas, das blank wie sein Hut, süß wie der Duft seiner Haarpomade war. Was aber mehr war, diese Liebe erschien Rosa wie der Anfang eines besseren, glücklicheren Lebens, und daher dieses angenehme Gefühl, wie wir es am Vorabend eines Festes haben.
Ob sie heute oder morgen einige Widerwärtigkeiten zu ertragen hatte, was lag daran, das große Ereignis würde auch die beseitigen. Nun aber, vor der Alltäglichkeit des kargen Gärtchens, vor dem gähnenden Frieden der grauen Häuser, im regelmäßigen Sumsen der Mittagsstunde, begann sie zu zweifeln. Wird Lanin der Schank nicht alles erzählen? Wird es nicht Demütigungen und Widerwärtigkeiten geben? Und der Vater? Was wird er sagen? Wird er nicht traurig und ergeben die grauen Haarbüschel über den Augen emporziehen, was Rosa immer ärgerte und betrübte? Morgen oder übermorgen musste sie doch wieder in den abgestandenen Tintengeruch der Schulstube hinein, und nichts – nichts hatte sich geändert! Furcht vor Strafe und Schelte stieg in Rosa auf, jenes lose, ungeordnete und unsichere Gefühl kleiner Mädchen, die etwas Unrechtes zu verbergen haben. Wo war denn Ambrosius? Warum schützte und tröstete er sie nicht? Warum nahm er sie nicht und führte sie weit fort? Rosa begann zu weinen, von der Sonne angeglühte Tränen, die ihr auf der Wange brannten. Sie sehnte sich nach Ambrosius. Wäre er nur da mit seinen sonntäglichen Kleidern, seinem hübschen, leichtsinnigen Gesicht, seinen schönen Redensarten, in denen immer das Wort »Liebe« vorkam! »Ja! Liebe – Liebe – Liebe«, sprach Rosa eigensinnig vor sich hin und schlug mit der Faust auf die Bretter des Zaunes. Liebe wollte sie – sie liebte Ambrosius – Ambrosius liebte sie – sollte sie heiraten, reich und vornehm machen – Hochzeit und Reisen, und gleich jetzt musste es geschehen, ehe die Schank und Sally und Lanin über sie herfielen. Eilig trat Rosa den Rückweg an. Wenn sie sich unbemerkt glaubte, lief sie – das Gesicht glühend, Schweißtropfen auf der Stirn und die Augenwinkel noch feucht von Tränen.
Zu Hause fand Rosa einen Brief vor.
»Liebchen! Ich leide furchtbar. Wo kann ich Dich sprechen? Der Peter holt die Antwort. Unserem Verhältnis droht Gefahr. Schreibe mir sogleich. Mit schwerem, aber Dir ewig treuem Herzen A. v. T. 28. August.« –
»Lieber Amby!« antwortete Rosa. »Komme heute um acht Uhr zum Fluss hinab. Hinter der Hütte des alten Raute erwarte ich Dich. Ich habe auch große Sehnsucht, Dich zu sehen. Lebe wohl. Einen Kuss von deiner R. 28. August.«
Vierzehntes Kapitel
Die Hütte des alten Raute lag hart am Fluss, halb in die steilen Sandmassen des Ufers hineingebaut. Sie bestand aus grauen, moosbewachsenen Brettern, besaß nur ein ganz kleines Fenster und eine morsche Türe, die an einer Angel hing. Auf einigen Handvoll Gartenerde neben der Hütte gediehen Levkojen, Georginen und wohlriechende Erbsen. Oben, auf dem Dach, unter dem Schutz der Sandlehne, machte sich ein Holunderstrauch breit und klopfte mit seinen blau-schwarzen Fruchttroddeln an das Fenster. Vor der Hütte, auf dem Fluss, lag das lange Boot für die Überfahrt, in dem der alte Raute einen jeden, der über das Wasser wollte, an einem von einem Ufer zum anderen gespannten Seil hinüberschob. Außer dem Gewerbe des städtischen Fährmanns besaß Raute als Einnahmsquelle noch zwei kleine Kähne, die er vermietete, und all dieses musste ihm ein behagliches Leben dort unter seinem Holunderstrauch sichern, denn er zeigte ein zufriedenes braunrotes Gesicht unter den kurzgeschnittenen Haaren, und die grünlichen Augen hatten den klaren Blick der Leute, die gewohnt sind, auf weiter Fläche in einen freien Horizont hinabzugehen. Er lehnte am Türpfosten seiner Hütte und rauchte. Vor ihm, auf einem großen Stein, saß Rosa. Sie hatte sich heute abend schön gemacht und trug ihren neuen Strohhut, einen runden Knabenhut mit schwarzen Bändern. Die Füße in den ausgeschnittenen Schuhen streckte sie von sich, um die schönen blau- und weißgestreiften Strümpfe sehen zu lassen, die sie sich gestern heimlich bei Paltow gekauft hatte.
»Sie dürfen nie von hier fortgehen, Herr Raute?« fragte Rosa höflich. »Sie müssen immer warten, ob nicht jemand über den Fluss will, nicht