Dolores kannte die liebliche Madonna mit dem Stern wohl, sie besaß ja selbst eine moderne Kopie derselben, die ihre Mutter ihr als Riccordo di Firenze geschenkt – vor Jahren. Sie betrachtete lange das schöne Bild und schloß dann wieder die geschnitzten Thürflügel des Rahmens. In ihrem Traume, da hatte die »böse Freifrau« darauf gedeutet und das obere, rechte Türmchen berührt, sie erinnerte sich dessen genau. Getrieben von einem wunderbaren Gefühl, das sie selbst nicht hätte bezeichnen können, trat sie auf das Kniepult des Betstuhles und berührte das Türmchen, indem sie es vorsichtig zu bewegen versuchte – es gab nicht nach. »Ob es sich drehen läßt?« dachte sie. Nein, es rührte sich nicht nach rechts und –
Sie trat mit einem Male erblassend von dem Kniepult herab, denn bei einer leichten Linksdrehung des Türmchens hatte es nachgegeben und langsam drehte sich der Rahmen mit samt dem Bilde – eine kleine in Angeln gehende Thür, die eine tiefe, sich nach innen erweiternde Nische maskierte.
Das war ja nichts Seltsames, denn dergleichen giebt's in alten Häusern, besonders in alten Herrenhäusern, die der Landstraße nahe liegen, genug, denn man mußte seine Pretiosen gut verbergen vor etwaigen Überfällen, besonders in der Zeit der schweren Not des Dreißigjährigen Krieges, wo wildes hungriges Gesindel genug herumzog und manches einsame, nicht befestigte Landhaus brandschatzte. Aber wie sie diese geheime Nische fand, das machte Dolores für den Augenblick betroffen, doch schon im nächsten Moment überwand sie es.
»Zufall,« sagte sie sich und trat dem Versteck wieder nahe. »Was mag darin sein?« – Sie leuchtete in den finsteren, kleinen Raum – er war mit Backsteinen ausgesetzt, sein Boden mit Holz bekleidet. Es lag nichts darin als ein Buch, in roten Samt gebunden, und auf dem Buche lag eine runde Kapsel in der Größe einer großen Taschenuhr. Etwas zaghaft nahm Dolores beides heraus und trug es auf den Tisch vor dem Ruhelager, indem sie sich darauf niederließ. Erst nahm sie die Kapsel auf – es war ein schön gearbeitetes Stück von mit Kupfer legiertem Golde, bedeckt auf der Vorderseite mit einem kunstvollen Netze von erhaben gearbeiteten Arabesken, die als Früchte bunte Edelsteine und kleine Bündelchen oval geformter Perlen trugen. Es mochte italienische Arbeit sein, reinste Renaissance war es jedenfalls. Auf Dolores' Bemühen öffnete sich die Kapsel leicht – sie enthielt zwei sich gegenüberliegende Miniaturporträts, die sich wiederum an kleinen Angeln in ihren goldenen, kaum nadelbreiten Rahmen herumdrehen ließen und rückwärts auf Pergament geheftete Haarlöckchen nebst Namen zeigten.
Das erste Porträt stellte niemand anderen dar, als die »böse Freifrau« – es war eine Kopie des Bildes in der Galerie bis unterhalb des Kragens, nur daß hier das schöne Antlitz noch lieblicher aussah, da ein leichtes Lächeln den wunderschönen Mund umschwebte. Auf dem die Rückseite des Bildes deckenden Pergamentblättchen war mit blauer Seide ein goldrotes Haarlöckchen angeheftet und ringsherum war in zierlicher Rundschrift mit Tusche gemalt: Maria Dolorosa, Freyfrau von Falkner, gebohrene Freyin von Falkner, anno domini 1618.
Das gegenüber, an der Rückwand der Kapsel angebrachte Bild zeigte einen schönen, wettergebräunten Männerkopf, um den eine Fülle schwarzen Haares nach der damaligen Mode sich bis auf den weißen, spitzenbesetzten Linnenkragen herablockte. Kühn blitzten die dunklen Augen, über dem stolzen Munde kräuselte sich ein feines Bärtchen – es war ein schönes Bild, und Dolores dachte, wie ähnlich ihm der Freiherr Alfred sei, nur daß dieser einen Vollbart trug und ihm die kleidsame Tracht jener Tage mangelte. Auf der Rückseite war dem Bilde mit roter Seite ein schwarzes Löckchen angeheftet und darum stand die Inschrift: Lupold Freyherr von Falkner, Kayserlicher Reuter-Hauptmann, anno domini 1618.
Dolores sah lange auf diese zwei Bildchen nieder, die so lebensvoll und liebevoll gemalt waren, und manche Frage stieg dabei in ihr auf. Waren die beiden hier ein Ehepaar? Und für wen war diese Kapsel hergestellt worden? Wer war der Maler dieser kostbaren Miniaturen? Alles dies waren ungelöste Fragen, denn die sie hätten lösen können, waren längst gestorben, oder – verdorben.
Seufzend schloß Dolores die Kapsel, da gewahrte sie auf der glatten Rückseite derselben eine Gravierung – zwei brennende, mit einem Bande verknüpfte Herzen und darunter die Worte:
Das Band, das der Hertzen zwo Verbindet
Lös't keiner, ob auch das Leben Schwindet.
Jahrhunderte waren darüber hingegangen, »der Hertzen zwo« hatten Ruhe gefunden – war es vielleicht die »alte Geschichte« gewesen mit den beiden?
Dolores legte die Kapsel zur Seite und nahm das Buch, löste dessen goldene Klammer und schlug es auf – es war ein Missale mit vielen bunten, jetzt verblichenen Bändern als Buchzeichen, mit mühsam gemalten Initialen und Kopfleisten. Es war ein vielbenutztes Gebetbuch, das sah man einzelnen der vergriffenen Blätter an; hatte sie daraus gebetet, die schöne, böse Freifrau? Doch da stand etwas geschrieben auf dem leeren, weißen Blatt, das dem Titel vorgeheftet war. Es waren energische, steile und kleine Schriftzüge einer nicht ungelenken Hand, und Dolores las, nachdem sie sich daran gewöhnt, fließend folgendes:
Wenn sich die Bas' dem Vetter soll vermählen,
Wird sich der Falk' ein dauernd Nestlein wählen.
Die letzte Falkin muß in Schmerzen büßen,
Die Grabesruh' der Ahne zu versüßen.
Wenn neu sie auflebt in der Huldgestalt,
Die einst im Brautgewande ward gemalt,
Kann diese Falkin siegen ob dem Bösen.
Wird meine arme Seele sie erlösen,
Wird sie des Falken Herz zu sich bekehren,
Werd' ich der Engel Alleluja hören.
Dann ist ein tausendjährig Blühn beschieden
Dem Stamm der Falkner auf der Erd' hienieden.
Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,
So wird ihr Stamm erlöschen und verschwinden.
Geschrieben am St. Johannisabend bei klarem Bewußtsein. Also hat Gott es mir gewiesen, auf daß ich nicht verzweifle, und mich hellsehend gemacht für eine Stund'.
Im Falkenhof, am 23. Juni a. d. 1620.
Maria Dolorosa, zwiefach verwittibte
Freyfrau von Falkner.
***
Dolores ließ das Buch sinken und sah bleich und starr auf die vergilbten Schriftzüge herab, und es schlich ihr kalt übers Herz, als sie ihres Traumes gedachte, wie sie die Ahne gesehen, und wie diese auf das Madonnenbild gedeutet, das Türmchen des Rahmens berührt und sie so hingewiesen auf das, was seit zwei und einem halben Jahrhundert und mehr vielleicht verborgen gelegen vor jedem menschlichen Blick.
Wie war das Rätsel zu lösen? Wie, wenn sie es allen Gelehrten der Erde zu raten gab? Sie selbst sann dieser Lösung nach, bis der Kopf sie schmerzte – der Traum blieb und das Buch vor ihr mit seiner Weissagung blieb auch. Ihr blieb nur, der Geschichte der Ahne nachzuforschen, um darin vielleicht einen Lichtschimmer zu entdecken, der freilich das Wunderbare des Traumes nicht mindern konnte, mochte er auch Aufklärung bringen über das schöne Frauenbild, das man »die Böse« nannte. Doch sie wollte andere befragen, ohne sich selbst zu verraten, sie mußte eindringen in dieses Mysterium, dem der Mensch im Schlafe verfällt – – und war es denn überhaupt im Traum gewesen?
Ihre Zweifel verdichteten sich wie die Nebel an einem Herbstmorgen, sie dachte nach, bis die Uhr über dem Südportal Mitternacht schlug und sie