Dolores hatte durch ihre Großmut einen coup diplomatique ausgeübt, dessen Tragweite ihr selbst nicht ganz bewußt war, denn sie hatte ihn ganz impulsiv ausgeführt. Sie war nicht berechnend genug, um durch Geld die Leute des Falkenhofes an sich zu ziehen – das war ihr so im Moment durch den Kopf gegangen, und im Moment hatte sie den Gedanken ausgeführt, ganz ihrer raschen, lebhaften Natur folgend und nach der Eingebung des Augenblickes handelnd.
»Seid klug wie die Schlangen,« dachte Doktor Ruß, als er von diesem »Gnadenerlaß bei der Thronbesteigung,« wie er es nannte, erfuhr.
Aber auch er, der gewandte Menschenkenner, irrte sich in Dolores' Charakter, denn er maß sie viel zu sehr nach dem eigenen Maß – bei solchen Messungen kommt man nur dann gut weg, wenn der Messende in alle Falten des menschlichen Herzens zu sehen vermag, denn da ruht immer irgend ein Goldkorn, verborgen den oberflächlichen Blicken.
Dolores schrieb ihren Brief an den Generalintendanten des Hoftheaters, dem sie sich kontraktlich verpflichtet hatte, und übergab ihn dem pünktlich erscheinenden Ramo, der alsbald nach B. abreiste. Die junge Herrin des Falkenhofes aber stieg hinab und ging hinaus ins Freie. – Die Atmosphäre in ihren Zimmern war infolge des langen Geschlossenseins der Räume schwer und drückend, Dolores mußte frische Luft einatmen, sonst –
»Nein, ich will nicht weinen,« dachte sie und trocknete eine verräterische Thräne. »Es ist's nicht wert. Und daß er mir weh gethan, das soll niemand erfahren, er selbst vor allem nicht – ich will auch nicht mehr daran denken!«
Als ob es so leicht wäre, das einmal zugefügte Weh zu vergessen, oder beiseite zu legen wie ein Kleidungsstück – –
Dolores schritt hinaus in die Abendkühle des frischen Maitages. Aber die grüne Umgebung des Falkenhofes, nach der sie sich gesehnt und von der sie geträumt hatte, seit sie von dem Schlosse geschieden, freute sie nicht, nun sie die Herrin war über den herrlichen Fleck Erde. Träumend schritt sie dahin, indes die kreppbesetzte Schleppe ihres Trauerkleides den Kies auf den Gängen zusammenfegte, aber die Stille um sie her, das in kurzen Pulsen läutende Abendglöckchen drunten im Dorfe, der starke betäubende Duft des eben erblühenden Jasmins machten ihr erregtes Innere nicht ruhiger.
»Wie glücklich war ich hier als Kind,« dachte sie, trotzdem damals kein Tag vergangen war, an dem der Tote, um den sie dies schwarze Kleid trug, sie nicht gescholten wegen ihres frohen Jugendmutes und sie eine »rothaarige Satansbrut« genannt hatte, das hatte ihr damals Vergnügen gemacht und sie angespornt, nun erst recht ihre kleinen, harmlosen Teufeleien auszuüben, was ihr Renommee nicht verbessert hatte, das lag auf der Hand. Aber heut' mußte sie sich sagen, daß die damals künstlich genährte Abneigung gegen sie auf dem Falkenhof nicht abgenommen hatte, und daß man ihr jenes Mißtrauen entgegenbrachte, das man so leicht gegen »Fremde,« das heißt Ausländer hegt.
»Es muß doch in meiner Person liegen,« dachte sie traurig, »denn Alfred Falkner trat mir feindlich entgegen, ehe er wußte, wer ich war.«
Aber dann mußte sie der Huldigungen denken, die man ihr dargebracht, so oft sie auch erschienen war, ihre wunderbare, herrliche Stimme erschallen zu lassen, und verwirrt dachte sie dem Rätsel nach, warum gerade dieser eine sie haßte und verachtete, dieser einzige, an dessen –, an dessen Wohlwollen und Freundschaft ihr so viel gelegen wäre. Eine Glutwelle schoß bei diesem Gedanken in ihr bleiches Antlitz und verlieh ihm einen neuen, eigenen Reiz. – Aber schnell wie es gekommen, schwand dieses holde Erröten wieder.
Behüt' dich Gott, es wär' so schön gewesen,
Behüt' dich Gott, es hat nicht sollen sein!
dachte sie schmerzlich.
Hier stand sie an einem Scheidewege. Rechts führte ein Weg in das Herz des Parkes, links – ja links hinter dem Gebüsch von Buchen und Syringen lag der Pavillon, den Engels sich von dem Freiherrn zum Logis ausgebeten und erhalten hatte, als er den Falkenhof betrat. Es war eigentlich ein runder Turm, mit einem unterkellerten Stockwerk und spitzem, viergiebeligem Dach – wahrscheinlich erbaut, um der damaligen Abtei als Wachtturm zu dienen für den Thorwärter. Jetzt lag das originelle Gebäude, das lange Zeit nur Ratten, Mäuse und deren Erzfeinde, die Eulen, bewohnten, mitten im Grünen, und die Kletterrosen und Klematis rankten lustig an den Mauern empor und hätten am liebsten die Bogenfenster ganz bedeckt, wenn Herr Engels dies geduldet hätte.
O, Dolores kannte den Weg zum »Türmchen,« wie es hieß, und dieses selbst sehr genau, hier hatte sie die ungetrübten Stunden ihres Lebens auf dem Falkenhofe zugebracht. Sie trat halb hinter dem Gebüsch hervor und sah hinauf zu dem Fenster, an dem sie selbst so oft gesessen – richtig, da saß wie damals Herr Engels, die kurze Pfeife im Munde, und den mächtigen Bart streichend. Von Zeit zu Zeit pfiff er dem Dompfaffen vor und das gelehrige Tier wiederholte gewissenhaft.
Vom hoh'n Olymp herab ward uns die Freude –
klang es deutlich zu Dolores herüber, und einem ihrer gewöhnlichen Impulse nachgehend, huschte sie dem Gesträuch entlang der offenen Thür des Türmchens zu, und blitzschnell die steile, finstere Treppe hinauf.
Fröhlich erschallet der Jubelgesang –
tönte es drinnen, und leise öffnete sie die eisenbeschlagene Eichenthür. Ein betäubendes Gekläffe tönte ihr entgegen, denn dazu hielt Knieper, der Dächsel und stetige Begleiter Engels', sich einmal für verpflichtet. Seine specielle Freundin, die Hauskatze Ida, mit der er in schönster Eintracht lebte und damit bewies, daß man nicht wie Hund und Katze zu leben braucht, fuhr erschrocken aus ihren Träumen auf dem Sofa auf, dehnte aber bald beruhigt ihr samtschwarzes Fell auf dem gewohnten Lager und blinzelte die Eingetretene mit ihren bernsteingelben Augen wohlwollend schnurrend an. Nur Knieper setzte seine gebellten Fragen nach der Identität dieses Abendbesuches fort und wollte sich durch Dolores' lachendes: »Wer wird denn so böse sein, bist ein gutes Hundel!« nicht beruhigen lassen, bis Engels, die Eingetretene erkennend, mit Donnerstimme: »Will er wohl ruhig sein!« dem Höllenlärm ein Ende setzte. Knieper zog sich knurrend zurück, indes Dolores dem Verwalter die Hände reichte.
»Da bin ich wieder zum Dämmer-Plauderstündchen, wie vor Jahren,« sagte sie bewegt.
»Willkommen wie damals,« erwiderte Engels, indem er sie zu dem gewohnten Sitz auf dem Fenstertritt führte. »Ach wie hat sich manches geändert – auch wir beiden! Sie sind eine große Dame, eine Berühmtheit geworden, und ich – nun, ich bin ein alter Kerl, der darauf wartet, bis der da droben ihn abruft –« –
»Was, so hoffe ich, nicht bald geschehen wird, denn Sie sollen mir ja raten und helfen, den großen Besitz zu verwalten, damit wir einst als ›treue Haushälter‹ befunden werden,« sagte Dolores ernst, dem Hünen die Hand reichend.
Er maß sie einen Augenblick lang.
»Ein Schuft will ich sein, wenn ich's nicht thue,« rief er, einschlagend, unnötig laut, wie immer, wenn ihn etwas rührte.
Und nun ward's einen Augenblick still in dem Stübchen des alten Junggesellen. Die Pause aber benutzte Ida, die Katze, die indes mit ihrer Prüfung der Fremden fertig geworden war; geräuschlos verließ sie das Sofa und sprang mit dem eigenen Laut dieser Tiere, den sie in freundlicher Stimmung ausstoßen und der in unserer unvollkommenen Ausdrucksweise nur mit den Konsonanten: »Mrrr« wiederzugeben, Dolores auf den Schoß.
Eine Liebhaberin aller Tiere, mit Ausnahme kriechender Geschöpfe von der Raupe bis zur Schlange, empfing sie das schöne, glänzende Tier mit freundlichem Streicheln; Ida rieb sich schnurrend an ihrer Hand, und ließ sich dann zur Fortsetzung ihrer Ruhe auf dem gastlichen Schoß nieder, was für den mit Aufmerksamkeit zusehenden Knieper ein Zeichen war, sich der also Anerkannten schwanzwedelnd zu nähern, sich mit behaglichem Grunzen von ihr streicheln zu lassen und endlich definitiv auf der creppbesetzten Schleppe zur Besiegelung der Freundschaft niederzulassen.
»So ist's recht,« meinte Engels strahlend, »denn das sag' ich: wen das Tier, das superkluge Naturforscher unvernünftig nennen, als seinen Freund mit dem feinsten Instinkt der Welt anerkannt, mit dem würd' ich sofort auch Freundschaft schließen, der ist ein guter Mensch!