»Ich wollte Dolores noch Lebewohl sagen, Mutter.«
»Dolores? Ah, da wirst du heut' nicht angenommen,« fiel Doktor Ruß mit der altgewohnten Aufmerksamkeit ein. »Der Erbprinz ist oben.«
»Darin sehe ich noch keinen Grund, nicht auch angenommen zu werden,« erwiderte Falkner, der einen Moment gestutzt hatte.
Nun berichtete Ruß mit leisem, bedeutsamem Lachen, wie er vorhin an der Treppe kurz und bündig von dem Erbprinzen »entlassen« worden war, und er legte in seinen Bericht eine Bedeutung, die er ja, wie wir wissen, in der That erraten hatte, welche er aber kaum berechtigt war, hereinzulegen.
»Nun, so richtet ihr Dolores wohl meine Empfehlungen aus,« meinte Falkner gleichgültig, küßte seiner Mutter die Hand, berührte die Fingerspitzen des Doktor Ruß und ging durch die große Lindenallee der Grenze von Monrepos zu. Sein Stiefvater aber raffte auch mit leisem Singen seine Siebensachen zusammen, warf seiner Frau eine Kußhand zu und verschwand im Hause, um es alsbald von einer anderen Seite aus wieder zu verlassen, als er von einem Diener erfuhr, daß der Erbprinz schon fort und »Baroneß« in den Park gegangen sei.
Falkner änderte inzwischen auch seine Absicht, direkt nach Monrepos zurückzukehren. Das stattgehabte Gespräch mit seinem Stiefvater hatte ihn, wie alle derartigen Gespräche mit demselben, geärgert und erregt, mehr aber noch gab ihm die nach Ruß' Version wichtige Anwesenheit des Erbprinzen im Falkenhofe zu denken. Was hatte dieser mit Dolores zu besprechen, daß er keine Zeugen zu haben wünschte? Grübelnd und seltsam erregt, ging er vorwärts, bog in dem Gefühl, sein Gleichgewicht erst durch einen Spaziergang wiederherstellen zu müssen, in einen Seitengang ein und schritt die denselben mehrfach kreuzenden, schattigen Laubsteige benutzend, planlos weiter. Am Abend war eine erfrischende Brise von Osten hergekommen, und die Sonne sank in wunderbar leuchtendem Glanz im Westen hinab. Da begann im Dorfe die Abendglocke zu läuten – weich und weihevoll schwebten die gedämpften Glockentöne durch die Luft, und Falkner nahm unwillkürlich den Hut vom Kopfe und blieb lauschend stehen. Er dachte mit seltsam wehmütigem Gefühl der Zeit, da er noch zur Abendglocke den Angelus betete, bis die Welt ihren Staub über jenen frommen Brauch legte und er ihn verlor. Denn man hört ja im Geräusch der Welt und der großen Städte keine Glocken mehr läuten, und wer ihren Klang nicht im Herzen trägt, den rufen sie bald nicht mehr zu dem geweihten Ort, dem sie dienen – – –
Und wie er stand und darüber nachsann, wie man so leicht vergißt, was nicht von dieser Welt ist, da tönte durch den Glockenklang eine wunderschöne, volle, weiche Frauenstimme zu ihm herüber –
»Dolores!« dachte er und eilte vorwärts. Mit wenigen Schritten war er am Hexenloch, an dessen malerischem Ufer sie stand. Im Hintergrunde flüsterten leis die uralten Blutbuchen. Sie hatte das Angesicht dem purpurroten Sonnenuntergange zugewendet, der durch eine Lichtung in den Bäumen auf die kaum bewegten Äste und auf das geheimnisvoll dunkle Wasser des Hexenloches leuchtende Tinten zauberte. Ihr wunderschönes Antlitz mit den dunkeln Augen, die ungeblendet hineinsahen in den Sonnenuntergang war goldrot beleuchtet.
So stand sie im weißen Kleide, Sonnenlicht in dem schimmernden Goldhaar, wie eine Elfe, seltsam überirdisch zu sehen, und sang ein Lied, dessen weiche Modulation, dessen wie von Schluchzen durchbebte Melodie wunderbar hineinpaßte in das stimmungsvolle Bild. Es war ein italienisches Lied, vielgesungen, weitbekannt, aber hier durchweht von hoher Künstlerschaft, von tiefstem Empfinden, das also hinausklang in den stillen, glockendurchzitterten Abend:
»Ich möchte sterben, wenn die Frühlingslüfte
Vom heitern Himmel lau die Erd' durchwehen,
Wenn neue Blüten hauchen neue Düfte,
Die Schwalben sorgend nach dem Nestlein sehen.
Ich möchte sterben, wenn die Sonne nieder
Am Himmel sinkt und schon die Veilchen träumen –
Da flieht zu Gott die müde Seele wieder,
Zu unbegrenzten, frühlingshellen Räumen.
Doch wenn der Sturm rast und die Blitze flammen,
Wenn finstre Wolken durch die Lüfte jagen,
Und wirbelnd treibt das welke Laub zusammen,
Möcht' ich nicht sterben, nicht hinaus mich wagen.
Ich möchte sterben, wenn die Sonne nieder
Am Himmel sinkt und schon die Veilchen träumen –
Da flieht zu Gott die müde Seele wieder
Zu unbegrenzten, frühlingshellen Räumen.«
[1]: Nach dem Italienischen des L. M. Cognetti von der Verfasserin.
Und wie Falkner stand und dem Liede lauschte, ungesehen von der einsamen Sängerin, da fiel ihm die Zeichnung des Blattes ein, das dem Liede als Umschlag diente, und das er einst drüben in Monrepos gesehen –: vor der untergehenden Sonne, die auf die »träumenden Veilchen« herabblickt, zwei beschwingte Schatten, welche sich zum Kusse zusammenneigen – –
»Vorrei morir – vorrei morir« – verklang es wie ein schluchzender Hauch. »Dolores –!« und er stand neben ihr, plötzlich, unerwartet, aber sie erschrak nicht vor seinem schnellen Kommen, sondern sah durch die Lichtung hinein in das Abendsonnengold, als wäre sie allein, wie vorher.
Und es wurde still unter den Blutbuchen am Hexenloch wie in einer Kirche, nur seine tiefen, schweren Atemzüge waren zu hören.
»Vorrei morir –« wiederholte er dann leise. »Warum nur möchten Sie sterben, Dolores?«
Da sah sie ihn an, wortlos, aber er schien keiner anderen Antwort zu bedürfen.
»Ich war im Falkenhof und wollte Ihnen Lebewohl sagen, denn ich reise morgen ab,« fuhr er nach einer Pause fort. »Und Prinzeß Alexandra läßt Ihnen sagen, daß Sie zu meiner Hochzeit nach Nordland kommen sollen.«
»Ja,« sagte Dolores mechanisch. Es war ihr erstes Wort.
»Ja,« wiederholte er. »Leben Sie wohl!« Und er reichte ihr die Hand. Als sie die ihre hineinlegte, ohne Druck, wie apathisch, da sprach sie mit seltsam klingender Stimme: »Sie kommen dann vielleicht auch zu meiner Hochzeit.«
Da prallte er zurück, wie getroffen.
»Der Erbprinz!« fuhr es ihm durch den Sinn, daß er den Namen laut aussprach. Sie nickte bejahend.
»Und Sie haben ›Ja‹ gesagt,« fragte er.
»Noch nicht,« erwiderte sie, »aber ich werde es wohl thun. Es ist das beste. Denn er ist ein guter, edler Mensch.«
»Und trotzdem singen Sie's in die Welt hinaus, daß Sie sterben möchten?« fragte er wieder, und als sie darauf keine Antwort hatte, fuhr er, dicht an sie herantretend, fort: »Wenn ich das noch sagen wollte, ich, Dolores! Ich, der ich ein namenloses Glück in blindem Wahn, in unsinniger Verblendung von mir stieß, eine königliche Lilie in den Staub trat und dafür ein Flatterröslein erwarb! Und dieses Glück war mir so nahe gelegt, und, meinen Sie nicht, daß es mir gelungen wäre, es zu erwerben?«
Doch statt zu antworten, wendete sie das schöne Haupt ab von ihm und sah wieder hinein in das Abendrot, das zu rosigen und violetten Tönen zu verblassen begann.
»Dolores,« sagte er leise, und sich zu ihr hinneigend, »Dolores, nur ein Wort sagen Sie mir! Hätte ich mein Glück erringen können, oder war es zu hoch für mich?«
»Zu hoch ist nichts für menschliches Wünschen,« antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und als er mit leisem Ausruf bis dicht vor sie hintrat, fuhr sie mit seltsamem Schwanken in der Stimme fort: »Aber jetzt ist es zu spät.«
»Zu spät!« wiederholte er stöhnend. »Nun denn, wenn es zu spät ist, so leben Sie wohl, Dolores!«
»Leben Sie wohl, Alfred,« kam es mit erstickter Stimme zurück.
»Nein,« sagte er heftig, »nein, so gehe ich nicht! Ich muß etwas mitnehmen für diese Reise durchs Leben, etwas,