Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor Storm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Theodor Storm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027203963
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eigenartige Wesen schien er mit bedenklichen Blicken zu betrachten. Ebensowenig gelang es ihr mit Tante Josephine, dieser ehrenwerten, aber etwas strengen alten Jungfrau, die sich auf eine recht fatale Weise um das Fertigwerden unserer Schulaufgaben bekümmerte. Und hier, wo Jenni nicht von allzu großem Respekt in Bann gehalten wurde, gab es bald einen kleinen fortgesetzten Guerillakrieg; und die würdige Tante konnte mitunter keine zehn Schritte gehen, ohne zu ihrem Schreck auf irgendeinen lustigen Schabernack zu treten.

      Aber es waren nicht bloß Tollheiten, die sie trieb; wir beide konnten auch zusammen plaudern. Sie wußte allerlei Märchen und Geschichten, die sie mit glänzenden Augen und lebhaftem Fingerspiel erzählte; meist wohl aus der Pension, die eine oder andere, wie ich jetzt glaube, auch noch aus ihrer alten Heimat. Und so konnte man uns denn oft abends in der Dämmerung auf der Bodentreppe oder in dem großen Reiseschrank zusammensitzen finden; je heimlicher wir unsern Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto lebendiger traten alle die wunderlichen und süßen Gestalten, die verzauberten Ungeheuer, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie. Unsere Vorliebe für verborgene Erzählungsplätzchen trieb uns zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel; ja, ich entsinne mich, daß wir zuletzt eine große leere Tonne dazu ausersehen hatten, die in dem Packhause unweit von meines Vaters Stube stand. In diesem Allerheiligsten kauerten wir abends, wenn ich aus den Privatstunden gekommen war, so gut es ging, zusammen; meine kleine Laterne, die zuvor mit einigen Lichtendchen versehen war, nahmen wir auf den Schoß und schoben dann ein großes auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung, so daß wir wie in einem verschlossenen Stübchen beisammensaßen. Wenn nun die Leute, die abends zu meinem Vater gingen, das Gemurmel aus der Tonne aufsteigen hörten, auch wohl einige Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte unser alter Schreiber, der sein Zimmer gegenüber hatte, kaum den immer neuen Fragen nach dieser verwunderlichen Erscheinung gerecht werden. Waren dann unsere Lichtendchen ausgebrannt oder hörten wir von der Hoftür aus die Magd nach uns rufen, so kletterten wir heimlich wie die Marder aus unserer Tonne, um noch, bevor mein Vater sein Zimmer verließ, in unsere Schlafkammern zu schlüpfen.

      Nur von ihren Eltern, besonders über ihre Mutter, sprachen wir niemals miteinander, außer einmal an einem Sonntagmorgen. – Ich spielte mit meinen Kameraden ,Räuber und Soldat.’ Seitwärts von unserm Hofe und hinter dem Garten lag, noch vom Großvater her, eine ganze Reihe jetzt leerstehender Fabrikgebäude, voll dunkler Keller und Kämmerchen und übereinandergetürmter Dachböden. Die übrigen Räuber waren schon alle in diesen Labyrinthen verschlüpft; nur ich, der ich selbstverständlich auch zu ihnen gehörte, stand noch unschlüssig im Garten. Ich dachte an Jenni, die sonst stets dabei war und im Klettern über Dächer und im Herabspringen durch Falltüren hinter dem wildesten Räuber nicht zurückstand. Heute aber hatte Tante Josephine sie an einen Schulaufsatz gepreßt; ich wußte, sie saß dort in der Hinterstube, deren Fenster auf den Garten ging. Und während ich vom Hofe her unter der Fahrpforte den Anführer der Soldaten seine Truppen harangieren hörte, schlich ich mich vorsichtig längs der Gartenmauer an das Haus heran und blickte, von einem Jasminbusch verborgen, in das Zimmer.

      Jenni saß mit aufgestütztem Arm am Tisch vor ihrem Schreibbuch; aber ihre Gedanken schienen nicht bei der Arbeit zu sein; denn, während ihre eine Hand in dem schwarzen krausen Haar begraben lag, zerstampfte sie mit der andern die arme Gänsefeder auf der Tischplatte. – Dicht neben ihrem Schreibzeug lag die wohlbekannte silberne Nadelbüchse der Tante Josephine und nicht weit davon ein mir gehöriger ziemlich starker Magnetstein. Plötzlich, während sie wie in Langerweile darüberhin blickte, schoß ein übermütiger Strahl aus ihren dunklen Augen; die nützliche Verwendung dieser beiden Dinge schien sich in ihrem Köpfchen zu kombinieren. Aus dem trägen Selbstvergessen wurde jetzt die beflissenste Geschäftigkeit. Sie schüttete den ganzen Inhalt von Tante Josephinens Heiligtum auf den Tisch; dann nahm sie den Magnet und begann emsig jede einzelne Nadel damit zu bestreichen. Wie ein kleiner schöner Teufel saß sie da mit ihren schwarzen Augen; sie schien im voraus schon die staunende Entrüstung der alten Jungfrau zu genießen, wenn diese demnächst ihre echt englischen Nähnadeln als ein rätselhaft vereinigtes Bündelchen aus der Büchse ziehen würde. Und während sie immer eifriger an ihrem schadenfrohen Werke arbeitete, zuckte unablässig ein kaum verhaltenes Lachen über ihr Gesichtchen, so daß die weißen Zähnchen hinter den roten Lippen hervorblitzten.

      Ich klopfte leise ans Fenster; denn auf dem Hofe erscholl das Signalhorn der ausrückenden Soldaten. Sie fuhr zusammen; als sie aber ihren Kameraden erkannte, nickte sie mir zu und tat rasch ihren ganzen Unfug in Tante Josephinens Nadelbüchse. Dann strich sie das schwarze Haar hinter die Ohren und kam auf den Fußspitzen zu mir heran. »Jenni«, flüsterte ich, »wir spielen Räuber!«

      Sie stieß behutsam den Fensterflügel auf. »Wer ist Räuber, Alfred?«

      »Du und ich; die anderen sind schon im Versteck.«

      »Wart einen Augenblick!« Und sie schlich leise zurück und schob den Riegel vor die Tür, die das Zimmer von der Wohnstube trennte. »Adieu, Tante Josephine!« – Rasch war sie wieder da, und mit einem leichten Sprung stand sie draußen.

      Es war ein prächtiger Frühlingstag; Garten und Hof voll von Sonnenschein. Die alten Birnbäume, die ihre Äste hoch an den Dächern der Gebäude ausbreiteten, waren mit weißen Blüten übersäet, zwischen denen sich überall die jungen lichtgrünen Blätter hervordrängten; aber hier unten im Boskett war das Laub nur noch spärlich am Gesträuch hervorgesproßt. Jennis weißes Kleid konnte uns verraten. Ich faßte ihre Hand und zog sie durch die Büsche, hart an der Gartenmauer entlang, und während wir das Trappen der Soldaten in einem Gange des vordersten Fabrikgebäudes verhallen hörten, schlüpften wir durch eine vom Garten aus hineinführende Tür in den entlegensten Anbau, auf dessen oberstem Boden ich auch meinen Taubenschlag eingerichtet hatte. Als wir auf der dämmerigen Treppe standen, atmeten wir einen Augenblick auf; wir waren glücklich entronnen. Aber wir stiegen höher; auf den ersten und dann auf den zweiten Dachboden; Jenni voran, ich vermochte kaum zu folgen; aber es entzückte mich – das weiß ich noch sehr wohl – wie die geschmeidigen Füßchen mit sichern, fast lautlosen Tritten vor mir die Stufen hinaufflogen. Als wir den letzten Boden erreicht hatten, ließen wir behutsam die Falltür herab und wälzten einen großen länglichen Holzblock darauf, der, Gott weiß bei welcher Gelegenheit, auf dem abgelegenen Boden liegengeblieben war. Einen Augenblick hörten wir auf das Flattern der Tauben, die nebenan in dem Schlage aus-und einflogen; dann setzten wir uns zusammen auf unsern Block und Jenni stützte das Köpfchen schweigend in ihre Hand, daß die krausen Haare ihr über das Gesicht herabhingen.

      »Du bist wohl müde, Jenni?« fragte ich.

      Sie nahm meine Hand und legte sie an ihre Brust. »Fühl nur, wie es klopft!« sagte sie.

      Als ich dabei unwillkürlich auf die schlanken weißen Fingerchen blickte, welche die meinen gefangen hielten, erschien mir daran, ich wußte nicht was, anders, als ich es sonst gesehen hatte. Und plötzlich, während ich darüber nachsann, sah ich es auch. Die kleinen Halbmonde an den Wurzeln der Nägel waren nicht wie bei uns andern heller, sondern bläulich und dunkler als der übrige Teil derselben. Ich hatte damals noch nicht gelesen, daß dies als Kennzeichen jener oft so schönen Parias der amerikanischen Staaten gilt, in deren Adern auch nur ein Tropfen schwarzen Sklavenblutes läuft; aber es befremdete mich und ich konnte die Augen nicht davon wenden.

      Es mochte ihr endlich auffallen; denn sie fragte mich: »Was guckst du denn so auf meine Hände?«

      Ich entsinne mich, daß ich verlegen wurde über diese Frage. »Sieh nur!« sagte ich, indem ich ihre Finger nebeneinanderlegte, daß die übrigens ganz rosenroten Nägel wie eine Perlenschnur beisammenstanden.

      Sie wußte nicht, was ich meinte.

      »Was hast du denn da für kleine dunkle Monde?« fuhr ich fort.

      Sie betrachtete aufmerksam ihre Hand und verglich sie mit der meinen, die ich dagegen hielt. »Ich weiß nicht«, sagte sie dann; »auf St. Croix haben sie das alle. Meine Mutter, glaub ich, hatte noch viel dunklere.« –

      Ganz aus der Ferne, aus der Tiefe irgend eines verborgenen Kellers herauf, hörten wir das Getöse der Räuber und Soldaten, die indessen handgemein geworden sein mochten, aber es war noch weit von unserem Zufluchtsort. Meine Gedanken gerieten