»Konntest du dort nichts lernen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Papa sagt, sie sprechen dort so schlecht.«
Es war ganz still auf unserm Dachboden und fast dämmerig, denn die kleinen Fenster waren mit Spinngeweben überzogen; nur vor uns durch eine ausgehobene Dachpfanne kam ein wenig Sonnenschein, so viel sich vor einem blühenden Zweig des großen Birnbaums hereinstehlen konnte. Jenni saß schweigend neben mir; ich betrachtete ihr Gesichtchen; es war sehr blaß, nur unter den Augen lagen seltsam tiefe Schatten.
Auf einmal bewegte sie die Lippen und lachte ganz laut vor sich hin. Ich lachte mit; dann aber fragte ich: »Worüber lachst du denn?«
»Sie konnte Papa nicht leiden!« sagte sie.
»Wer denn?«
»Mamas Meerkatze!«
»War denn Papa nicht gut gegen sie?«
»Doch! – Ich weiß nicht. – Sie stahl ihm immer seine Brillantnadel aus dem Jabot, wenn er zu uns kam!«
»Wohnte dein Papa denn nicht bei euch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er kam nur oft des Abends zu uns; er wohnte in einem großen Hause in der Stadt. Mama hat es mir gesagt, ich bin nicht drin gewesen.«
»So! – Wo wohntet ihr denn, du und deine Mutter?«
»Wir wohnten auch sehr schön! Draußen vor der Stadt. Das Haus lag im Garten, hoch über der großen Bai; eine Galerie mit Säulen war davor; da saß ich immer mit Mama, wir konnten alle Schiffe kommen sehen.« – Sie schwieg einen Augenblick: »Oh, sie ist sehr schön, meine Mama!« sagte sie stolz. Dann ließ sie die Stimme sinken und setzte fast traurig hinzu: »Sie hatte so allerliebste schwarze Löckchen vor der Stirn!« Und als sie das gesagt hatte, brach sie in bitterliche Tränen aus.
Nach einer Weile hörten wir unter uns das Getümmel und die Blechhörner der Soldaten; sie schienen an der Treppe des ersten Bodens haltzumachen und sich zu beraten. Ich sprang auf und blickte umher. Das hatten wir nicht bedacht, es war nirgend ein Ausgang. »Wir müssen uns verteidigen«, sagte ich leise; »denn wir sind gefangen.«
Jenni hatte rasch ihre Augen getrocknet. »Noch nicht, Alfred!« Und sie zeigte auf die Dachöffnung uns gegenüber. »Dort mußt du hinaus, und dann über den Birnbaum in den Garten hinab.«
»Das geht nicht; ich darf dich nicht verlassen.«
»Oh!« rief sie, »mich sollen sie nicht fangen!« Dabei blickte sie nach dem dunkelsten Winkel des Daches hinauf. »Geschwind, hilf mir! Ich setze mich dort oben auf den Hahnebalken; dann seh ich’s, wie sie unter mir umherrasen!«
Der Rat war gut; und nach ein paar Augenblicken war sie mit meiner Hilfe an den Sparren und Latten emporgeklettert und saß im Dunkeln auf dem kleinen Querbalken unter der höchsten Spitze des Daches. »Siehst du mich?« rief sie, als ich wieder unten stand.
»Ja, ich sehe deine weiße Hand.«
»Noch immer?«
»Nein, ich sehe nun nichts mehr.«
»Dann mach, daß du fortkommst!« –
Aber die Öffnung war zu eng. Ich riß noch eine Pfanne aus und zwängte mich hindurch; denn schon drängten die Verfolger mit lautem Geschrei unter der Falltür unseres Bodens, und ich hörte schon den schweren Holzblock sich bewegen.
Wie es geschah, weiß ich nicht mehr; aber kaum war ich draußen, so fühlte ich die Dachpfannen unter mir fortgleiten; ich kam ins Rutschen, die Zweige des Baumes schlugen mir ins Gesicht, es prasselte rings um mich herum; auf gut Glück, während es immer unhaltbarer abwärts ging, erwischte ich einen Ast, fuhr wie rasend daran hinunter, während ein paar Dachpfannen an mir vorbei in den Garten hinabflogen, und kam endlich mit einem so derben Stoß zu Boden, daß ich fast wie betäubt liegenblieb.
Als ich hinauf blickte, sah ich über mir in der Höhe zwischen den blühenden Zweigen die großen erschreckten Augen und die hängenden schwarzen Locken des schönen Kindes, das sich mit halbem Leibe aus dem zertrümmerten Dache zu mir herabbog. Um ihr ein Zeichen meines Lebens, vielleicht noch mehr meiner Bravour, zu geben, stieß ich, nicht ohne Anstrengung, ein lautes Lachen aus; als ich dann aber den Kopf wandte, sah ich in das strenge Gesicht meines Vaters, der mich mit mehr Verdruß als Sorge zu betrachten schien; auch Tante Josephine zeigte sich in der Ferne, den unvermeidlichen Strickstrumpf in den vor Schreck erstarrten Händen. Ich begreife noch nicht, wie Jenni so schnell zu uns herabgekommen. Sie hatte sich über mich geworfen und begann emsig mir die Haare aus Gesicht und Schläfen wegzustreichen; in demselben Augenblick aber, als jetzt mein Vater mit einer heftigen Gebärde die Hand ausstreckte, um mir vielleicht etwas unsanft vom Boden aufzuhelfen, sprang sie wie emporgeschnellt wieder auf. »Du«, schrie sie, und die ganze kleine Gestalt streckte sich, »rühr ihn nicht an!« Sie hielt ihm das geballte Fäustchen vors Gesicht; im Grund ihrer Augen funkelte etwas, das herausschießen wollte.
Mein Vater, einen Schritt zurücktretend, kniff nach seiner Art die Lippen zusammen und legte die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich ab und ging bei sich selber murmelnd in sein Kontor zurück. Mir war, als habe er gesagt: »Das muß ein Ende haben.« Als meine Mutter jetzt in den Garten trat, flog Jenni auf sie zu, und ich sah, wie die milde Frau das zuckende Körperchen des heftig bewegten Kindes unter leisem, mir unhörbarem Zuspruch mit beiden Armen an sich drückte.
Seit diesem Tage war – so glaube ich – in uns beiden ein unbewußtes Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Verantwortlichkeit entstanden; es war ein Keim gelegt, der viele Jahre geschlummert hat, aus dem aber dann im Strahl der Mondnacht die blaue Märchenblume emporgeschossen ist, deren Duft mich jetzt berauscht.
Wie soll ich dir diese kleinen ungreifbaren Dinge schildern! Gleich in den ersten Tagen darauf, wenn unter dem Mittagsessen mein Vater mir nach der Magd zu klingeln befahl, so hatte gewiß schon Jenni jedesmal die Schnur gezogen, noch ehe er das Wort ganz ausgesprochen; nur damit mein humpelnder Gang die verhängnisvolle Geschichte nicht in Erinnerung bringe.
Aber die schönen Tage waren vorüber; die Schreckensnachricht kam, daß eine neue Pension für Jenni gefunden sei, und bald war auch der Tag des Abschieds da. – Ich weiß noch wohl, wie ich, in unserm großen Birnbaum sitzend, in einem unklaren Zustand von Trauer und Ingrimm, eine unreife Birne nach der andern abriß und damit nach dem unschuldigen Bodenfenster unseres Nachbarn zielte, bis ich durch ein Geräusch unter mir aufmerksam gemacht wurde und beim Hinabblicken Jenni im Nankingreisemäntelchen einen Zweig um den andern bis zu mir hinauf erklimmen sah. Als sie oben war, schlang sie den Arm um einen Ast; dann zog sie einen kleinen Ring aus der Tasche und steckte ihn an meine Hand. Sie sprach kein Wort, sondern sah mich dabei nur höchst traurig mit ihren großen Augen an. Ich hatte mir das mit der Unbeholfenheit eines aufwachsenden Jungen gefallen lassen, und während ich halb verlegen auf meinen so geschmückten Finger blickte, war Jenni ebenso still wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Jetzt erst fuhr ich so rasch von meinem Baum herunter, daß ich fast wieder hinabgestürzt wäre. Da ich aber durch das Haus auf die Gasse hinauskam, fuhr eben der Wagen fort, und ich sah nur noch ein weißes Tüchelchen, das nach uns zurückwehte. Da stand ich denn plötzlich von Kummer und Sehnsucht überwältigt und betrachtete mein kleines Angedenken. Es war ein Ring von Schildpatt mit goldner Einfassung. – Ich wußte nicht, daß Jenni mir das Liebste gegeben hatte, was sie zu jener Zeit besaß.«
Alfred hatte während des Erzählens seine Zigarre weggelegt. »Du rauchst nicht!« sagte er; »aber ich kann dich nicht so müßig sitzen sehen, du mußt einen Ableiter für die Langeweile haben.« Er hatte mit diesen Worten einen kleinen Flaschenkeller aufgeschlossen, der neben seinem Reisekoffer stand; und bald hielt ich ein geschliffenes Glas mit duftendem Trank in meiner Hand. »Wein von Alicante!« sagte Alfred; »und hier sind auch Feigen in wilden Thymian verpackt! Ich weiß, du liebst mit dem Erfinder der Urhygiene, was süß und lieblich ist. Es sind Geschenke von Jennis Vater; er hat sie mir selber eingepackt, als ich ihn vor einigen Tagen verließ.«
»Du hast deines älteren Bruders nicht erwähnt«, bemerkte ich, als Alfred sich wieder zu mir gesetzt