Als wir dann später zusammensaßen und ich auf die Fragen der Meinigen alles noch einmal erzählen mußte, was ich in meinen Briefen ihnen schon geschrieben hatte, kam auch Jenni wieder zu uns und setzte sich still an Gretes Seite.
Abends nach herzlichem Zwiegespräch führte Hans mich in das Schlafzimmer im oberen Stockwerk. – Noch lange, nachdem er mich verlassen, lag ich wachend aber in behaglichster Ruhe in meinen Kissen; denn die Nachtigallen schlugen überlaut in den Büschen des Gartens, auf den die Fenster hinausführten.
Als ich erwachte, war mein Zimmer erhellt von dem Licht des Sommermorgens. Ein Gefühl von wachsender Gesundheit und Lebensfülle durchströmte mich, wie ich es kaum je empfunden. Ich kleidete mich an und öffnete die Fenster; der weiche Rasen unten lag noch feucht von Tau, und der Duft der Rosen wehte mir frisch und morgenkühl entgegen. Meine Uhr zeigte auf sechs; es war noch eine Stunde bis zum gemeinsamen Frühstück. So sah ich mich denn noch einmal in dem Zimmer um, das, wie Grete mir neckend vertraut hatte, bis zu meiner Ankunft die Residenz meiner Räuberbraut gewesen sei. Und wirklich, in einem Schubfach des Toilettenspiegels; das ich aufzog, lag noch ein Flöckchen rosafarbener Seide, in das sich ein langes glänzend schwarzes Haar so eigensinnig verfangen hatte, daß ich es kaum ohne Verletzung herauszulösen vermochte. Dann, als mir das gelungen, fand ich auf einem Hängebrettchen über dem Bette ein paar Bücher mit Jennis Namen, die ich zu durchblättern begann. Das erste war ein Album, wie man es bei jungen Mädchen findet, vollgeschrieben von allerlei Versen wenig ausgeprägten Inhalts. Dazwischen aber standen andere, wie Disteln zwischen unschuldigem Klee. Gleich das erste, das mir in die Augen fiel:
Ich bin eine Rose, pflück mich geschwind;
Bloß liegen die Würzlein vor Regen und Wind.
Nein, geh nur vorüber und laß du mich los;
Ich bin keine Blume, ich bin keine Rose
Wohl wehet mein Röcklein, wohl faßt mich der Wind;
Ich bin nur ein heimat-und mutterlos Kind.
Die letzte Zeile war zwiefach unterstrichen; und desselben Sinnes fanden sich mehrere. Ich legte das Album fort und nahm das andere Buch. Ich erschrak fast. Es war Sealsfields Pflanzerleben; der Teil, welcher die lebensvolle Erzählung von den Farbigen enthält, jenen anmutigen Kreaturen, denen der Verfasser kaum ein ganzes Menschentum zugesteht, die aber, nach seiner Schilderung, in ihrer verlockenden Schönheit die bösen Genien der eingewanderten Europäer sind. Auch in diesem Buche waren einzelne Stellen mit Bleistift angestrichen, so scharf mitunter, daß das Papier davon zerrissen war. Mir fiel das Gespräch ein, das ich vor vielen Jahren mit der kleinen Jenni über diesen Gegenstand gehabt hatte; auf alle die Dinge, welche damals ihre Phantasie so harmlos bewahrte, mußte jetzt ein scharfes schmerzendes Licht gefallen sein.
Als ich aufstand und aus dem Fenster sah, ging sie unten auf dem breiten Kieswege des Gartens. Sie trug wie gestern ein weißes Kleid; ich habe sie in jenen Tagen nie anders als in weißen Kleidern gesehen.
Einen Augenblick später war auch ich im Garten. Sie ging vor mir auf dem breiten Steig, der von der Terrasse aus um den Rasen führt; sie ging rasch wie in innerer Erregung und schwenkte ihren Strohhut an den seidenen Bändern. Ich blieb stehen und sah ihr nach. Als sie bald darauf zurückkam, ging ich ihr entgegen. »Verzeih, wenn ich dich störe«, sagte ich; »ich habe die kleine Jenni nicht vergessen, aber ich bin ungeduldig, die große kennenzulernen.«
Sie sah mich rasch mit ihren schwarzen Augen an. »Das wird ein schlechter Tausch, Alfred!« erwiderte sie.
»Ich hoffe, gar keiner. Du hast dich gestern schon verraten; du bist noch ganz die alte herzlich heftige Jenni von vordem; mir war, als müßten sogar deine schwarzen Haare aus dem Knoten springen und sich wieder in kleinen wilden Kinderlöckchen um deine Stirn kräuseln. Und« – fuhr ich fort – »laß mich es dir auch sagen, wie jene unwillkürliche Äußerung deiner Teilnahme mich bewegt hat.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie.
»Nun, Jenni, was war es denn anders, das dir die Schale aus der Hand warf, als meine Mutter ihren Sohn empfing?«
»Das war keine Teilnahme, Alfred. Du hältst mich für besser, als ich bin.«
»Was war es denn?« fragte ich.
»Neid war es«, sagte sie hart.
»Was sprichst du da, Jenni?«
Sie antwortete nicht; aber während wir nebeneinanderher gingen, sah ich, wie ihre blitzenden Zähne sich in die rote Lippe gruben. Dann brach es hervor. »Ach!« rief sie; »du verstehst das nicht; du hast noch keine Mutter verloren und – oh, eine Mutter, die noch immer lebt! – Daß ich einmal ihr Kind gewesen, mir schwindelt, wenn ich daran denke; denn es liegt tief im Abgrund unter mir. Immer vergebens und immer wieder ringe ich, ihr schönes Antlitz aus der trüben Vergessenheit heraufzubeschwören. Nur ihre zärtliche Gestalt sehe ich noch an meinem Kinderbettchen knien; ein seltsames Lied summt sie und blickt mich mit weichen sammetschwarzen Augen an, bis unwiderstehlich mich der Schlaf befällt.«
Sie schwieg. Als wir uns wieder dem Hause zugewandt hatten, sah ich meine Schwägerin auf der Terrasse, die mit dem Schnupftuch nach uns winkte. Ich faßte die Hand des Mädchens. »Glaubst du mich noch zu kennen, Jenni?« fragte ich.
»Ja, Alfred; und mir ist das wie ein Glück.«
Als wir die Terrasse betraten, drohte Grete uns lächelnd mit dem Finger. »Wenn ihr noch Bedürfnis nach irdischer Speise habt«, sagte sie, so kommt jetzt an den Teetisch!« – Damit trieb sie uns in den Saal, wo wir schon unsere Mutter mit ihrem ältesten Sohne im Gespräch fanden. Und in dieser freundlichen Umgebung schwanden bald die Schatten, die noch eben tief genug auf diesem jungen Antlitz lagen; oder sie traten wenigstens von der Oberfläche unsichtbar in ihr Inneres zurück.
Am Nachmittag fand ich Gelegenheit, mit Jenni unserer gemeinsamen Kindergeschichten zu gedenken, und sie lachte wieder hell und herzlich. Ein paarmal suchte ich das Gespräch von meiner Mutter auf die ihrige zu bringen, aber sie schwieg entweder plötzlich oder redete von anderen Dingen.
Später, als die Sonnenhitze abgenommen, rief mein Bruder uns und seine Frau zum Federballspiel auf den großen Rasen. Es gehörte zu seiner Sonntagsunterhaltung und er hielt streng darauf, daß es nicht versäumt wurde. Für unsere Mutter ließ er einen Polsterstuhl auf die Terrasse tragen, von wo aus sie dem Spiele zusah.
Hier war Jenni in ihrem Elemente. Mit den großen rasch blickenden Augen verfolgte sie den Ball, und ebenso leicht, bald rückwärts, bald zur Seite weichend, flogen ihre Fuße über den Rasen. Dann im rechten Augenblick schwang sie mit ihrer kleinen Hand den Ketscher und schlug das herabschießende Federspiel, daß es geflügelt in die Luft zurückstieg. Einmal auch, wie hingerissen in der Aufregung des Spiels, warf sie den Ketscher von sich und unter dem lauten Ruf: »Wie er fliegt! Ihm nach, ihm nach!« flog sie selbst, mit den Fingern wie zum Gruß in die Luft schnalzend, über den Boden dahin. – Oder wenn sie sich bückte und den Ball aufnahm, oder wenn er von der kräftigen Hand meines Bruders getroffen, einmal über sie hinflog, – man mußte es sehen, wie sie dann den Kopf mit dem schweren glänzenden Haar zurückwarf und wie leicht und rasch diese biegsamen Hüften der Wendung des schönen Kopfes folgten. Ich konnte die Augen nicht von ihr wenden; in diesen kräftigen und doch so anmutigen Bewegungen war etwas, das unwillkürlich an die Ursprünglichkeit der Wildnis erinnerte. Auch meine gute Schwägerin schien ganz davon hingerissen. Während Jenni den fliegenden Ball verfolgte, kam sie auf mich zugelaufen und flüsterte: »Du siehst sie doch, Alfred? Du hast doch die Augen offen?« Und als ich erwiderte: »Ach, nur zu sehr, Grete!« sah sie mich mit ihrem schwesterlichsten Lächeln an und sagte heimlich: »Ich gönne sie nur einem; hörst du, nur einem einzigen auf der Welt!«
Dann aber rief uns meine Mutter und sagte: »Es ist genug, Kinder!« Und Jenni kniete vor ihr, und die alte Frau streichelte ihr die heißen Wangen und nannte sie ihr »goldnes Herz.«
Später, nach dem Abendessen,