Der Senator hatte still danebengestanden. »Du irrst dich, Christian«, sagte er jetzt; »es rührt sich keine Hand um uns; oder« – und er nahm ein Zeitungsblatt neben sich von der Kommode, – »wie es hier geschrieben steht:
Die fremde Sprache schleicht von Haus zu Haus Und deutsches Wort und deutsches Lied löscht aus; Trotz alledem – es muß beim alten bleiben: Die Feinde handeln, und die Freunde schreiben.«
Aber der alte Freischärler legte die Faust vor sich auf den Tisch, und die tiefe Narbe über der Stirn begann zu leuchten. »Mögen sie schreiben!« rief er, »das rechte Wort wandert landaus und -ein, rastlos und unantastbar, bis es sein Fleisch und Bein gefunden hat. Langsam geht es, langsamer als anderswo; aber« – und die breite germanische Männergestalt richtete sich in ihrer ganzen Höhe auf – »das Wachstum der Eiche zählt nur nach Jahrhunderten. Laß dich nicht irren von dem, Schwester! – Lies nur die Bedingungen; der Verkäufer hat uns nirgends übervorteilt.«
Sie hatte teilnehmend diesen Reden zugehört. Nun, während der Senator schweigend seine Zeitung zusammenfaltete, nahm sie das Schriftstück und begann es aufmerksam zu lesen. Die Hand, welche das Blatt hielt, zitterte; aber ihr Antlitz verklärte sich wie von junger aufstrebender Hoffnung, da doch das Leben sich schon abwärts neigte.
Der Bruder stand ihr gegenüber; die Arme untergeschlagen, gespannt zu ihr hinüberblickend. – Sie hatte ihn wohl verstanden; er wollte ihr nach Kräften einen Ersatz der Lebensgüter bieten, auf die sie einst durch jenes schwesterliche Opfer hatte verzichten müssen. Sie blickte empor, und die Augen der Geschwister begegneten sich. »Du willst mir gar nichts schuldig bleiben!« sagte sie schüchtern; »aber Christian, du zahlst dich arm dabei.«
Der lebhafte Mann schüttelte sein buschiges Haupthaar, als wolle er das Gefühl abschütteln, das ihn überkam. »Nein, nein!« rief er, die Hand wie abwehrend vor sich hinstreckend; »aber ich dächte, Schwester, du hülfest gern deinem Bruderssohn zu Haus und Hof!«
Sie sah ihn an und lächelte; aber noch einmal verschwand das Lächeln für kurze Zeit von ihrem Antlitz, und sie blickte mit fast schmerzlichem Ausdruck auf das vor ihr liegende Schriftstück. Sie mochte des Toten gedenken, über dessen kleinen Schatz sie jetzt auch verfügen sollte. – Dann, nach einer Weile, tauchte sie die Feder ein und schrieb. »Für mich – und Ehrenfried!« sagte sie.
Der Senator ergriff die Hände des jungen Mannes, der schweigend das Ende der Verhandlungen abgewartet hatte.
Sein etwas finsteres Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der festen, ausgeprägten Stirn des Jünglings. »Weil du es denn gewollt«, sagte er, zu seinem Freunde hingewandt, »dein Sohn soll uns willkommen sein. – Und morgen Weinkauf auf dem Heidehof! Nein, Meta, sorge nur nicht; wir kannten dich ja – die Braten sind schon alle hier gemacht.«
Von Jenseit des Meeres
Das Zimmer im Hotel war durch die gepackten Koffer nicht behaglicher geworden. Mein Vetter, ein junger Architekt, der es seit zwei Tagen bewohnt hatte, ging schweigend und seine Zigarre rauchend auf und ab, wie jemand der ungeduldig ist, eine leere Zeit hinzubringen. – Es war eine milde Septembernacht, die Sterne schienen durch das offene Fenster; drunten auf der Gasse war der Lärm und das Wagengerassel der großen Stadt schon verstummt, so daß man drüben vom Hafen her das Plustern der Nachtluft in den Wimpeln und Tauen der Schiffe vernehmen konnte.
»Wann mußt du fort, Alfred?« fragte ich.
»Um drei Uhr geht das Boot ab, das mich an Bord bringen soll.«
»Willst du nicht noch ein paar Stunden ruhen?«
Er schüttelte den Kopf.
»So laß mich bei dir bleiben. Meinen Schlaf hole ich morgen im Wagen auf der Heimfahrt nach. Und wenn du willst, erzähle mir – von ihr! Ich kenne sie ja nicht; und laß mich wissen, wie alles so gekommen ist.«
Alfred schloß das Fenster und schraubte die Lampe höher, so daß es völlig hell im Zimmer wurde. »Setz dich und habe Geduld«, sagte er, »so sollst du alles wissen.«
»Schon als zwölfjähriger Knabe«, begann er dann, als wir uns jetzt gegenübersaßen, »habe ich mit ihr in meinem elterlichen Hause zusammen gelebt, sie mochte einige Jahre weniger zählen als ich. Ihr Vater lebte derzeit noch auf einer der kleinen Inseln Westindiens, wo er durch Glück und Geschick in verhältnismäßig kurzer Zeit aus einem mittellosen Kaufmann zu einem reichen Plantagenbesitzer geworden war. Seine Tochter hatte er schon vor einigen Jahren nach Deutschland geschickt, um sie in der Sitte seiner Heimat erziehen zu lassen; aber die Anstalt, in der sie sich bisher befunden, war durch den Tod der Vorsteherin aufgelöst, und bis eine neue gefunden wurde, sollte sie unter Obhut meiner Eltern bleiben. Lange schon, ehe ich sie selber sah, war meine Phantasie von ihr beschäftigt worden, besonders aber als meine Mutter nun wirklich ein Kämmerchen neben dem Schlafzimmer der Eltern für sie in Bereitschaft setzte. Denn es war ein Geheimnis um das Mädchen. Nicht nur, daß sie aus einem andern Weltteil kam und daß sie die Tochter eines Pflanzers war, die ich aus meinen Bilderbüchern nur als fabelhaft reiche und höchst grausame Herren hatte kennenlernen; – ich wußte auch, daß ihre Mutter nicht die Frau ihres Vaters sei. Näheres von dieser hatte ich nicht erfahren können; und ich dachte sie mir daher am liebsten als eine schöne ebenholzschwarze Negerin mit Perlenschnüren in den Haaren und blanken Metallringen um die Arme.
Endlich, an einem Februarabend, hielt der Wagen vor unserer Haustreppe. Ein kleiner alter Herr mit weißen Haaren stieg zuerst herab; es war der Kommis eines ihrem Vater befreundeten Handlungshauses, der sie ihren neuen Beschützern überliefern sollte. Bald darauf hob er ein kleines, in viele Tücher und Mäntel gehülltes Mädchen vom Wagen, das er dann mit einer gewissen Feierlichkeit in unsere Wohnung führte und mit einer kleinen wohlgesetzten Rede der Fürsorge des Herrn Senators und Frau Gemahlin empfahl. – Aber wie verwunderte ich mich, als sie den Schleier zurückschlug; sie war nicht schwarz, nicht einmal braun; sie schien mir weißer als irgendein anderes Mädchen aus meiner Bekanntschaft. Ich sehe sie noch, wie sie mit den großen Augen um sich blickte, während sie sich von meiner Mutter das pelzverbrämte Reisemäntelchen von den Schultern ziehen ließ. Als auch Hut und Handschuhe abgenommen waren, und das ganze zierliche Figürchen nun endlich aus allem Reiseplunder herausgeschält dastand, streckte sie meiner Mutter die Hand entgegen und sagte etwas zaghaft: »Bist du denn meine Tante?« Als diese ihr aber die kohlschwarzen Löckchen von der Stirn strich, sie in die Arme schloß und küßte, da sah ich mit Erstaunen, wie leidenschaftlich das Kind diese Liebkosungen erwiderte. Bald zog meine Mutter auch mich zu sich heran. »Und das ist mein Junge!« sagte sie. »Sieh ihn dir an, Jenni; er hat ein gut Gesicht; nur zu wild ist er; und da paßt es sich, daß er jetzt ein Mädchen zur Gespielin bekommt.«
Jenni sah sich um und gab mir die Hand; aber dabei schoß ein Blick von solcher Schelmerei zu mir herüber, als wollte sie sagen: »Wir verstehen uns; guten Tag, Kamerad!«
Und so zeigte es sich schon in den nächsten Tagen; diesem leichten, feingliederigen Kinde war kein Baum zu hoch, kein Sprung zu verwegen. Sie war fast immer mit bei unsern Knabenspielen, und, ohne daß wir es wußten, regierte sie uns alle; durch ihre Kühnheit wohl weniger als durch ihre Schönheit. Mitunter konnte sie uns zu einem wahrhaft wilden Taumel hinreißen, so daß mein Vater von dem Lärm aus seiner Schreibstube aufgeschreckt wurde und dann durch ein unerbittliches