Heilige Narren. Ulrich Holbein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Holbein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843802642
Скачать книгу
Kundschafter, Zuträger, zum Schweigen verpflichtete Mitarbeiter? Mitunter lag er ohne Nierenschutz zwei Stunden auf kalten Steinen. Seine plattgelegene Wange spiegelte sich in einer Speichelpfütze. Wer würde sowas simulieren wollen? Manche meinten, er hätte Freude dran, sich totzustellen und andere zu erschrecken. Jedesmal lag er noch echter und länger tot herum, um dann doch wieder Glanz in die erloschenen Augen zu bekommen. An seine zwei vorigen Inkarnationen vermochte Hermotimos sich exakt zu erinnern, Euphorbos und vorher, Aithalides. Auch das wollte sich keiner anhören. Sein Weib hielt ihm Standpauken, die spurlos von ihm abperlten; er war zu gut oder zu ungenügend für die enge Welt, in der er immer weniger steckte. Blackouts liefen mit Fehlmeldungen um die Wette. War’s Bosheit oder Verzweiflung, als seine zunehmend vergrätzte, dann abgehärmte Ehefrau eines Tages überall verkündete, er sei nun doch von uns gegangen, endgültig, leider, und zwar steckte sie das vor allem seinen Feinden, den Kanthariden, die ihn umgehend bzw. auffällig überstürzt beisetzten oder verbrannten. Wurde der Arzt, der seinen Leichnam überprüfte, bestochen von den Kanthariden oder ihr, oder war tatsächlich keinerlei Puls zu fühlen? Hatte sie ihn wirklich für tot gehalten oder nur die Nase voll, und setzte einen Lebendigen bei, dessen Seele jeden Moment aus Hindustan zurückkehrte und nun plötzlich keinen Eingang mehr fand in einen erstickten oder verkohlten Leichnam? Entweder spielte sich auf der Astralebene ein Drama ab: Eine Seele suchte verzweifelt ihren Leib und zappelte in Panik bezugslos im Luftleeren. Angenommen, Hermotimos hätte als Scharlatan Scheintod stets nur simuliert, wär er doch sicherlich bei den Bestattungsfeierlichkeiten plötzlich erwacht, spätestens bei entzündetem Feuer. Gab er sein Leben hin, um nicht als Simulant entlarvt zu werden? Oder aber: Hermotimos war vielleicht einfach nur gestorben, eines ganz natürlichen Todes, und fertig. Seine Witwe, die viele nicht leiden konnten, eine Giftnudel, eine vorsokratische Xanthippe – oder einfach nur eine Vielgeprüfte? –, trauerte sehr, was man aber auch hätte schauspielern können.

      So heftig die Gerüchte schwollen und züngelten, bereits nach ein, zwei Generationen wußte man nichts Genaues mehr. Hermotimos verschwand, ohne greifbar aufgetaucht zu sein, hinter ausdünnenden, statt aufschwellenden Legenden. Bereits in der Antike tat man die monströse Story als Märchen ab und vergaß ihn nach Möglichkeit sehr. Ab und zu fiel er irgendwem nochmal ein. Weder wurden seine Schriften überliefert noch ihm Aussprüche in den Mund gelegt. Aber seine mystischen Abwesenheitszustände gruben sich im Gedächtnis ein, im Gegensatz zu sonstigen Lebensdaten. Man baute Hermotimos einen Tempel, dessen Mauern nicht ewig hielten und dessen Standort in Vergessenheit absank und den keine Frau je betreten durfte; denn eine Frau hatte Hermotimos verraten. Nach seinem Ableben inkarnierte er als der delische Fischer Pyrrhos, und danach hochprominent und schier historisch als Pythagoras. Einerseits heißt es bis heute, Anaxagoras, der gleichfalls aus Klazomenai stammte, hätte erstmals die Lehre vom Nus (= Nous) gelehrt, also den Geist als Anschubser oder bewegendes Prinzip betrachtet, andererseits berichtete Aristoteles über Hermotimos, er hätte bereits zweihundert Jahre vor Anaxagoras dessen Nus-Lehre vorweggenommen. Tatsächlich würde die Lehre vom Geist, der Körper anschubst und herumbewegt, bestens zu Hermotimos passen. Nur wenige Autoren – Porphyrios (Vita Pythagoras 45); Hippolytos philosophos 2,11 (Diels, Doxographi graeci 557,7); Plutarch (De genio Socratis 22, 592 cd); Diogenes Laertios (Leben und Meinungen berühmter Philosophen), Buch 8,5, C. Plinius Secundus der Ältere (Naturkunde, Buch VII, Anthropologie, Paragraph 174, und Tertullian (De anima 44) – kamen spärlich auf Hermotimos von Klazomenai zu sprechen. Lukianos aus Samosata zog in seinem »Loblied auf die Fliege« die Hermotimosgeschichte heran, um darzutun, daß die Fliege unsterblich sei, nämlich ab und zu sterbe und dann doch wieder herumfliege. Nicht einmal ward es Hermotimos vergönnt, als Stammvater aller Astralreisenden angemessen einzuwandern ins erste Kapitel späterer Bücher über Astralprojektion, Bilokation und OBB-Erfahrungen (Out-of-Body) wanderte Hermotimos von Klazomenai, der Stammvater aller Astralreisenden und Hinweggenommenen, nicht hinein. Andere Raptus-Günstlinge: Henoch, Zhuangzi, Liäzi, Hans Engelbrecht.

      Andere über Hermotimos von Klazomenai: Unter den Beispielen haben wir aufgefunden, dass die Seele des Hermotimos aus Klazomenä unter Zurücklassung des Körpers herumzuirren und umherschweifend aus der Ferne vieles zu berichten pflegte, was nur von einem Anwesenden erkannt werden konnte, während der Körper in der Zwischenzeit halbtot war, solange bis Feinde, die Kanthariden genannt wurden, nachdem sie diesen verbrannt hatten, der zurückkehrenden Seele gleichsam die Scheide wegnahmen. (C. Plinius Secundus der Ältere: »Naturkunde«, Buch VII, Anthropologie, Paragraph 174) – Nachdem Euphorbos gestorben, sei seine Seele übergegangen in den Leib des Hermotimos, der seinerseits sich beglaubigen wollte und zu dem Ende sich zu den Branchiden begab; dort wies er nach seinem Eintritt in den Tempel des Apollon auf den Schild hin, den Menelaos da aufgehängt hatte. Menelaos nämlich – so sagte er – habe nach seiner Abfahrt von Troja dem Apollon den Schild geweiht, der bereits stark vom Zahne der Zeit gelitten, so daß nur noch das elfenbeinerne Antlitz erhalten war. (Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch 8,5)

      Als Hundekönig im Unflat auf Menschensuche

      Diogenes von Sinope – Kyniker, Provokateur, Parasit (414–323 v.Chr.)

      Der Bankierssohn vom Schwarzen Meer wurde verbannt, aus unklärbaren Gründen, wohl, weil sein Vater und er Geld fälschten. In Athen drängte er sich zeitweise dem kynischen Urvater Antisthenes als Schüler auf, von Piraten als Sklave nach Korinth verkauft. Abgemagert zum Billigprodukt mit Schleuderpreis, ging er auf einen Transvestiten oder Hermaphroditen, jedenfalls arg femininen Käufer zu: »Kauf du mich. Du scheinst mir einen Mann nötig zu haben«, gelangte in ein vornehmes Haus, wo er als Erzieher die Kinder seines Herrn, dem er Anweisungen erteilte, ohne ihn zu verärgern, lehrplangemäß reiten lehrte, Speere werfen, Schleuder schießen, aber Gewicht drauflegte, Dichtung, Historie und seine eigenen Schriften auswendig lernen zu lassen. Freigelassen pendelte er zwischen Athen und Korinth. Wenn alle sich sorgten, grämten und lamentierten, lachte er betont unbesorgt. Sein ganzer Besitz paßte in einen Ranzen, eine Art antiken Picknickkorb. Geld, das er annahm, nannte er, statt »milde Gabe«, »Rückerstattung«. Als Bettler bettelte er Statuen an, um sich im Nichtsbekommen zu üben. Zwecks Abhärtung wälzte er sich sommers in glühendem Sand, und umarmte winters eingeschneite Bildsäulen. Knochen, die man ihm hinwarf wie einem Hund, bepißte er wie ein Hund. Lausbuben, die Angst zeigten, er könne sie beißen, rief er zu: »Keine Angst, Kinder, ein Hund frißt kein Grünzeug.« Pythagoräer frönten ethischem Vegetarismus; Diogenes fraß oder aß, was er bekommen konnte, stibitzte in Neumondnächten Opfergaben für Hekate vom Opfertisch weg, rohe Eier und Tintenfische; versuchte auch Fleisch roh zu essen, bekam’s aber nicht klein. Seine Genügsamkeit trieb er unstillbar voran und hatte dann gut schimpfen auf »unmännlichen, kotbefleckten Überfluß«. Als er ein Kind aus hohler Hand trinken (bzw. einen Straßenköter schlabbern) sah, warf er seinen Becher (Kürbisschale) fort; als er einen Knaben Linsenbrei in ausgehöhltem Brot unterbringen sah, entsorgte er seinen Eßnapf. Gefragt, wo er wohne, deutete er auf Zeus’ Säulenhalle und Pompeion (Zeughaus): »Das hat Athen zu meinen Ehren gebaut!« Seinen Mantel machte er, zweilagig übereinandergeschlagen, zum Nachtlager-Ersatz. Oft übernachtete er ohne Dach überm Kopf; später nächtigte er im Pithos, einem großen Tongefäß, im Metroon (Staatsarchiv und Tempel der Göttermutter Kybele), programmatisch als freiwilliger Slumbewohner und Stadtstreicher. Sehr lobte er Heiratswillige, die ledig, Absegelbereite, die zu Haus blieben, Dienstantretende, die davon absahen. Indem er zum Zeigen nie den Zeigefinger, immer den Mittelfinger nahm, schlug er sich selber dem Lager der Verrückten zu. Einem, der ihn zum Meister haben wollte, drückte er mit den Worten »Hör auf ihn« einen Hering in die Hand (was spätere Zen-Meister regelmäßig so handhabten) und foppte ihn später mit dem Wort: »Unsere Freundschaft hat ein Hering zerstört«, nach andern Quellen: ein lumpiger Käse. Bei Veranstaltungen und Disputationen zog er plötzlich Lupinen aus dem Mantelbausch und aß sie wortlos auf. Als mal keiner seiner Rede zuhörte, begann er zu zwitschern, sofort sammelte sich ein Haufen Zuhörer. Ins Theater begab er sich stets erst dann, wenn ihm alle draus entgegenströmten. Einem, der seine Laute stimmte, sagte er: »Wieso bringst du die Töne mit dem Holz in Einklang und läßt deine Seele mit dem Leben im Mißklang?« Einem, der seinen Vater runterputzte, sagte er: »Schäm dich, einen verächtlich zu behandeln, von dem dein Hochmut doch herstammt.« Einem stattlichen Jüngling, der unstatthaft daherredete, sagte er: »Schäm dich, aus elfenbeinerner Scheide