– Ja, und dann hat der Herr Landrat uns für morgen Abend eingeladen.
Marit zuckte freudig auf. Dort würde sie Falk sehen. Er war ja mit dem Landrat gut Freund.
– Ja, Papa, ja; ich möchte sehr gerne zu Landrats. Ja, Papa, wir wollen fahren.
Aber Kauer wollte schon am frühen Morgen reisen.
Marit ließ nicht nach mit Bitten.
Sie komme nirgends hin; sie möchte so gerne wieder einmal recht viele Menschen sehen.
Kauer liebte seine Tochter; er konnte ihr nichts abschlagen.
– Nun, dann kann ich mit dem Nachtzug fahren. Aber dann mußt du allein nach Hause.
– Das sei doch nicht das erste Mal. Sie sei doch ein erwachsenes Mädchen.
Kauer aß und dachte nach.
– Warum kommt denn Falk nicht mehr? Ich habe ordentlich Sehnsucht nach dem Burschen. Ja, ein merkwürdiger Mensch. Die ganze Stadt ist in Aufregung über ihn. Er macht aber auch wirklich tolle Sachen. Gestern begegnet er seiner Mutter, wie sie ein Schwein nach Hause treibt, das sie auf dem Markt gekauft hatte; sie konnte nämlich keinen Dienstmann bekommen. Was macht mein Falk? Er nimmt das Schwein am Seil, treibt es durch die ganze Stadt, von einer Straße zur andern, die Mutter hinter ihm her – ja, und als die Leute ihn nun ganz verdutzt anglotzen, klemmt er sich ein Monokel ins Auge und treibt das Schwein mit einer Majestät und Ehrfurcht ...
Marit lachte.
– Ha, ha, ha – Herr Kauer konnte sich nicht beruhigen – ein Schweinetreiber mit Monokel! Wunderbar ... Und Abends, na ja: weißt du das geht doch über das Maß: er hat dem Gymnasialdirektor Ohrfeigen angeboten.
– Warum denn?
– Ja, ich weiß nicht; aber es ist wirklich Tatsache. Aber denk dir doch, Marit: dem Direktor! Ja, ja, er ist ein merkwürdiger Mensch. Aber das Merkwürdigste, daß man ihn trotzdem lieben muß. Schade um den Menschen, hm: er soll in diesen Tagen furchtbar trinken. Es war doch wirklich schade, wenn er sich durch trinken ruinierte.
Marit horchte auf.
– Trinkt er denn wirklich so viel jetzt?
– Ja, man sagt.
Marit dachte an seine Worte: er trinke nur, wenn er sich unglücklich fühle. Und der Vater trinkt doch manchmal auch ... –
Sie fühlte eine merkwürdige Freude.
Es war ihm also nicht gleichgültig ... Morgen, morgen werde sie ihn sehen ...
VII.
Marits ganzes Gesicht leuchtete vor Freude auf, als sie unter den Gästen des Herrn Landrats Falk erblickte.
Aber Falk hatte keine Eile sie zu begrüßen. Er stand mit dem jungen Arzt und war in ein Gespräch vertieft.
Und doch hatte er sie gesehen; sie hatte seinen spürenden Blick gemerkt.
Erst später begrüßte er sie kalt und steif im Vorbeigehen.
– Herr Gott, wo steckten sie so lange? – Herr Kauer schüttelte herzlich Falks Hand. Ich hätte so gerne vor meiner Abreise noch mit Ihnen gesprochen.
– Abreise?
– Ja, ich muß heut Nacht zu meiner Frau fahren und vertraue Marit ihrem Schutze an.
Der junge Arzt mischte sich in das Gespräch; er wollte absolut wissen, wie weit jetzt eigentlich die Forschung auf dem Gebiete der Nervenanatomie gediehen sei. Herr Falk sei doch Spezialist darin.
– Ja, damit habe er sich schon lange nicht mehr befaßt; jetzt sei er Literat und schreibe Romane. Aber einige Aufklärungen könne er ihm geben.
– Direkte Kontakte gebe es nicht? Ja, mein Gott, wie pflanze sich der Nervenstrom denn fort? Nein, das ist ja eine Revolution!
Marit saß in der Nähe; sie horchte gespannt hin, während sie der Frau Gerichtsrätin, die sie nach dem Wohlbefinden der Mama befragte, gleichgültig zerstreute Antworten zuwarf.
Worte, fremde, gelehrte Worte – Golgi ... Ramón und Cajal ... Kölliker ... granulöse Substanz ... arborisation terminale – flogen zu ihr herüber.
Nein, davon verstand sie kein Wort. Erik wußte alles.
Wie klein kam ihr der kluge Arzt vor, der auch alles wissen wollte und beständig mit seinem Wissen prahlte. Wie ein Schulbube stand er da.
Ein freudiger Stolz erfüllte sie mit heißem Jubel.
Der Mann liebte sie! Wie schön, wie herrlich er dastand! Sie erbebte heftig ...
Man setzte sich zu Tisch.
Das Gespräch wurde allmählich allgemeiner; man kam auf wichtige Tagesfragen.
Marit saß Falk gegenüber; sie suchte seinen Blick zu erhaschen, aber er wich immer aus.
Wollte er sie denn nicht sehen? Und doch hatte sie sich niemals so nach seinem Blick gesehnt.
Man sprach über die letzte Veröffentlichung der Ansiedlungskommission in der Provinz Posen.
– Nun, das könne er gar nicht verstehen – Falk sprach schnell und eindringlich. Man dürfe ihm nicht vorwerfen, daß er mit den Polen kokettiere; durchaus nicht; aber er verstehe es einmal nicht. Man solle ihm nämlich den Widerspruch klar machen. Auf der einen Seite fühle sich Preußen als die mächtigste Nation Europas, nicht wahr? Ja, das werde in jeder offiziellen Rede betont, und man spreche in den offiziellen Kreisen doch sehr viel! Wie reime sich das nun damit zusammen, daß die Preußen so ungeheuer die lächerlichen drei bis vier Millionen Polen fürchten? Ja, fürchten! Man verbiete doch die polnische Sprache in den Schulen; man unterdrücke, wo man könne, das polnische Element; mache absichtlich einen großen Teil der eigenen Untertanen zu Idioten und Kretins, denn er wisse aus eigener Beobachtung, daß die Kinder polnisch vergessen und ein gräßliches Idiom annehmen, das überhaupt keine Sprache sei. Man kaufe die Güter an, parzelliere, zerstückele sie, siedle überall arme und meistens faule deutsche Kolonisten an, die niemals im Stande seien, die sprichwörtliche Kraft des polnischen Bauern zu ersetzen. Die Kolonisten kämen schließlich ganz und gar in Armut, obwohl man ihnen die denkbar größten Erleichterungen mache. Der Rassenhaß werde geweckt. Warum tue man das alles? – Ist es wirklich Furcht?
– Nein, das verlange das Interesse des Reiches, die Sicherheit des Landes; die Polen seien wie Würmer, die überall hineinkröchen und das starke germanische Element zersetzen – warf der Landrat ein, der ein Mitglied der Kommission war.
– Gut, schön; dann aber solle man die dumme Phrase von der Macht und Stärke des preußischen Staatsbewußtseins und dergleichen mehr aufgeben und einfach sagen: Wir sind ein schwacher Staat, wir sind kein Staat, ein Haufen Polen genügt, uns zu polonisieren und schließlich, aus dem polonisierten Preußen ein glorreiches polnisches Reich zu machen und darum sind wir genötigt, die Polen auszurotten.
Falk wurde erregt.
– Gut, das verstehe ich: wir sind keine Nation, wir wollen eine werden, und diesen Zweck heiligt die Geschichte. Dann müßte man sagen: Ob moralisch oder nicht, das ist uns gleichgültig, die Geschichte kennt keine Moral. Ja, so sollten wir sagen, meine Herrn, ganz frech, und dann sollten wir kaltlächelnd das Resumé ziehen: Wir sind eine in drei Kriegen zusammengetrommelte Nation, wir sind eine aus der Kriegsbeute zusammengewürfelte Nation, das heißt keine Nation.
– Das Resumé sei ganz falsch, unterbrach der Herr Kreisphysikus – er schien sehr aufgebracht – ganz, ganz falsch. Die Preußen hätten nur mit einem sehr unruhigen und unzufriednen Elemente zu tun. In Polen könne es jeden Tag