Und nun nehmen Sie einen Menschen, der Tag aus, Tag ein sich solche Beispiele unerhörter sozialer Grausamkeit ansieht, nehmen Sie einen Menschen, der Zeuge ist, wie die Arbeiter bei einem Streikaufruhr wie Hunde totgeschossen, wie sie durch gewaltige Kapitalien ausgehungert und in ihrem berechtigten Widerstand lahmgelegt werden: glauben Sie nicht, daß solche Beispiele dieser unseren sozialen Gerechtigkeit genügen, um bei einem Menschen, der ein starkes Herz hat, eine Rachsucht zu erzeugen, die sich blindlings an dem ersten besten von den sozial Privilegierten sättigen will – sättigen muß?!
Unser Herz ist abgestumpft, mein Herr; unser Herz ist schwach und borniert, wie unsere Interessen es sind; es hat Auge und Ohr nur für unsre eignen kleinlichen Zustände. Aber nehmen Sie einen Menschen, der stark und überschwenglich und kindlich genug ist, um sich als eine ganze Welt zu fühlen – ja nehmen sie beispielsweise jenen Henry: was hat ihn zu seinen Mordtaten getrieben?
Ein Herz, ein großes Herz, dessen Macht wir abgestumpften, kleinen Egoisten nicht begreifen können! ein Herz, das mit furchtbarer Resonanz auf all den Jammer, all die Ohnmacht ringsherum antwortete!
Er wurde zum Verbrecher, freilich; aber er war kein gewöhnlicher Verbrecher. Er war Verbrecher aus Empörung, ein Entrüstungsverbrecher. Das ist ein großer Unterschied. Im Effekt natürlich kommt es auf dasselbe hinaus; aber wir sind doch wohl in unserer Urteilskraft schon so weit vorgeschritten, daß wir nicht nach dem Erfolg, sondern nach Motiven Kategorien zu bilden anfangen können.
Um Falk herum hatte sich eine Gruppe gebildet, die aufmerksam zuhörte.
Der Redakteur hielt jetzt die Gelegenheit für günstig, Falk vor den reaktionären Elementen bloßzustellen.
– Sie entschuldigen also die anarchistischen Mordtaten vollkommen ... Der Redakteur grinste schadenfroh ... Sie hätten also Henry ohne weiteres begnadigt?
Falk überflog die um ihn stehenden Menschen mit den Augen und sagte sehr ruhig.
– Nein, das hätte ich nicht getan. Ich gehöre selbst zu den Privilegierten, riskiere also im nächsten Augenblick bei einer Explosion in die Luft zu fliegen, befinde mich also in einer Art Notwehr, die den Tod Henrys unerläßlich macht. Gleichzeitig aber sage ich mir: von meinem Standpunkt habe ich Recht, aber Henry hatte von seinem aus Recht. Er ging durch die soziale Gerechtigkeit oder vielmehr soziale Willkür zu Grunde, die allein Macht und Recht gibt. Sie werden sich wohl aber denken können, daß die soziale Willkür sich ebenso gut auf Henrys Seite stellen könnte, und dann würde Henry als ein großer Held gepriesen werden. Nehmen Sie z. B. einen Krieg: ist er nicht ein gewaltiger Massenmord? Aber im Kriege zu morden, ist – süß und ehrenvoll, wie jener Römer singt.
Na ja; das gehört nicht zur Sache. Aber ich bitte Sie, mich nicht mißzuverstehen. Wir sehen die Dinge von einer Vogelperspektive aus. Ich sage nur: ich kann eine solche Empörung verstehen.
Wir haben nämlich alle die psychischen Keime in uns, aus denen sich nachher die intensivsten Formen von Mord, Raub, u. s. w. entwickeln können. Daß sie es nicht tun, ist reiner Zufall. Übrigens glaube ich, daß wir solche Empörung alle verstehen können. Wie oft hat nicht ein jeder von uns sich diesem Gefühl schon hingegeben!
Falks scharfe Augen entdeckten den Direktor, der etwas abseits stand.
– Sehen Sie, meine Herrn, ich ging z. B. vorgestern in meiner Empörung so weit, daß ich der so hochgeschätzten, so wohlverdienten Person des Herrn Direktors Ohrfeigen angeboten habe.
Die Umstehenden sahen sich unwillkürlich mit diskretem Lächeln nach dem Direktor um.
– Ja, ich bereue es aufrichtig; aber im Momente einer intensiven Gefühlsaufwallung habe ich es getan.
Weswegen? – Ja, meine Herrn, wenn man über die Schriften eines Mannes empört ist, so geht man wahrhaftig nicht in die Schule und läßt seinem Grimm vor dummen Knaben in etwas unzivilisierten Ausdrücken freien Lauf.
Nein, das tut ein Gentleman nicht. Vielleicht ist das hier zu Lande Sitte, aber ich bin an europäische Sitten gewöhnt.
Ja richtig, Herr Redakteur: Sie haben Recht, wenn Sie mich an das Resumé erinnern.
Das Resumé? Hm, ja, das Resumé. Ich begreife den Anarchismus als Propaganda der Tat, ich kann ihn mir erklären. Ich kann alle psychischen Bestandteile, aus denen sich die Idee eines politischen Mordes entwickelt, einen nach dem andern prüfen, zerlegen, verstehen, ebenso wie ich die Affektformen verstehen, zerlegen und betrachten kann, die in ihrer gesteigerten Intensität zum gewöhnlichen Wahnsinn werden, zu einer Manie, einer Melancholie u. s. w. u. s. w.
Nein, mit Falk ließ sich nichts anfangen; er war glatt wie ein Aal.
Der Redakteur entfernte sich beschämt.
Marit stand die ganze Zeit an Eriks Seite.
Sie fühlte sich ihm so nahe; so nahe. Sie war glücklich und stolz. Er wandte sich so oft an sie, sprach beinahe zu ihr.
Ja, er hatte das schöne, große, herrliche Herz von dem er sprach. Er hatte das stolze Herz der Empörung und des Mutes: vor einer ganzen Welt bekennt er offen und mutig, was er denkt!
Und wie schön er war in dieser Atmosphäre dicker, dummer Menschen. Wie herrlich sein geistvolles Gesicht und die feinen, diskreten Gebärden, mit denen er seine Worte begleitete.
Ein mächtiges Jubelgefühl erfüllte ihre ganze Seele, das Gefühl einer grenzenlosen Hingebung. Sie zitterte, und ihr Gesicht färbte sich purpurrot.
Falk verschwand auf einen Augenblick.
Wollen wir nicht gehen? flüsterte er Marit ins Ohr, als er zurückkam.
Marit erhob sich.
Es war Sitte hier im Hause, ohne die üblichen Abschiedsformeln zu gehen. Der Landrat war nervös und liebte es, wenn die Menschen gingen und kamen, ohne ein Wort zu sagen.
VIII.
Als sie beide vor die Tür traten, wurde Falk ein wenig unruhig.
– Er habe den Kutscher nach Hause geschickt. Die Nacht sei so herrlich; er möchte sie so gern zu Fuß nach Hause begleiten. Für sie werde es auch gut sein, wenn sie sich ein wenig von der stupiden Gesellschaft in freier Luft erhole.
Falks Stimme zitterte ein wenig.
Marit sprach kein Wort; eine dunkle Beklommenheit benahm ihr fast den Atem.
Sie traten aufs freie Feld; beide nachdenklich, schweigend.
Nun war der Augenblick gekommen, wo man in die Seele des Wesens, das man liebt, hineinschauen kann wie in die eigene. Falk fühlte ihre Seele wie eine Roulettekugel von einer Grenzwand seiner Suggestionen zur andern hin- und herrollen:
– Ob sie nicht seinen Arm nehmen wolle?
Der Weg sei sehr schlecht; er habe viele Löcher, man könne sich sehr leicht den Fuß verstauchen.
Sie nahm stumm seinen Arm. Er preßte ihn sehr fest an seine Brust und fühlte, wie sie bebte.
Falk wußte, daß er jetzt nicht sprechen könne; seine Stimme würde umkippen.
Er kämpfte gegen diese Aufregung; aber seine Unruhe wuchs und wuchs.
Nein, er raffte sich auf. Nein, jetzt nicht!
Das erinnerte ihn an die Art der Bauern, die gleich mit beiden Händen täppisch zugreifen.
Der Mond goß fahle