Nun hatte aber mein Vater den Diebstahl und den Dieb entdeckt. Alle Knechte wurden aus dem Dorfe zusammengerufen und der Schuldige vor den Vater gestellt.
– Hast du gestohlen?
– Ja, antwortete trotzig der Knecht.
– Willst du ins Gefängnis kommen, oder dreißig Peitschenhiebe empfangen?
Ohne einen Laut legte sich der Knecht auf die Erde und die Exekution begann.
– Schlag gut zu, sonst wirst du selbst geprügelt, schrie mein Vater dem Kutscher zu.
Und der Kutscher schlug mit der starken, ochsenledernen Peitsche, so viel er Kraft hatte.
– Nun schlag du! rief er einem idiotischen Viehknecht zu, dessen breites Gesicht sich zu einem behaglichen Grinsen verzerrte.
Ein Hieb so wuchtig, so furchtbar wuchtig ... aber mein Gott, seien Sie doch nicht so furchtbar empört, mein Fräulein; bis jetzt ist alles in Ordnung ...
Also ein furchtbarer Hieb sauste auf den Körper des Unglücklichen. Er sprang auf, fletschte mit den Zähnen und legte sich wieder.
Die umstehenden Knechte lachten laut auf, in heller Freude: Das hat der Viehknecht gut gemacht! Ja, er hat Kräfte wie ein Goliath!
Noch ein Hieb, noch zwei, drei, vier, fünf ...
Ich schrie, ich raste in meinem Versteck. Ich kratzte den Boden mit den Fingern. Ich stopfte mir die Ohren mit Erde voll, um nichts zu hören. Ja, ja, als Kind ist man so blödsinnig mitleidig.
Die Exekution war zu Ende. Der Knecht erhob sich und fiel wieder um; er konnte nicht gehen. Um ihn herum brach das Menschenvieh in helles Gelächter aus.
Aber der Knecht hatte unerhörte Willenskraft; er erhob sich doch und schleppte sich zum Hofe hinaus.
Mein Vater war zufrieden und setzte sich zum Frühstück. Ich erinnere mich, er aß viel und gut. Ich hätte wie eine Wildkatze auf ihn springen, ihn zerreißen mögen. Aber begreiflicherweise ließ ich das.
In der Nacht brannte unser Hof an allen vier Ecken. Ich sprang aus dem Bett und freute mich darüber, wie ich mich in meinem Leben nicht gefreut habe. Nun war mein Vater bestraft!
Die Türen der Ställe wurden aufgerissen, das Vieh wurde herausgebracht ...
In diesem Augenblicke trat meine Mutter ins Zimmer und der Traum war zu Ende.
Marit war ganz erschüttert.
– Hat sich denn das in Wirklichkeit so zugetragen, oder war alles nur Traum?
– Nun, das ist ja gleichgültig. Das Interessante ist nur die Arbeit des schlafenden Individualbewußtseins. In dem Augenblick, als die Mutter die Tür aufmachte, hat das nicht schlafende Bewußtsein die ganze Erinnerung mit einer unerhörten Schnelligkeit abgewickelt. Daran ist übrigens nichts merkwürdiges. Hippolit Taine erzählt von einem Manne, der während einer Ohnmacht, die nur zwei Sekunden dauerte, ein Leben von fünfzig Jahren durchlebte.
Das konnte Marit nicht verstehen.
– Das ist auch gar nicht nötig, daß Sie es verstehen. Rassurez-vous: ich verstehe es auch nicht ... Nun traten zu der ursprünglichen Erinnerung andere Eindrücke, und das alles hat sich so mit einander zu einem Traum verflochten.
Marit gab sich nicht zufrieden; Falk solle ihr das näher erklären.
– Nein, Fräulein Marit, Sie werden nicht klüger dadurch. Sie müssen nur zugeben, daß die Seele ein anderes Ding ist, ganz anders, als sie sich in den rohen ungebildeten Gehirnen der Kirchenväter widerspiegelte. Hören Sie nur weiter.
Ja, also das z. B., daß der Körper des Knechtes in meinem Traume sich wand und aufschnellte, das kam wahrscheinlich von einem andren Eindruck her. Sie wissen doch, daß ich Naturwissenschaften studierte? Ja, damals arbeitete ich im physiologischen Laboratorium und habe eine Unmenge Frösche und Kaninchen viviseziert. Ich mußte es nämlich tun, und ich habe die Tiere immer narkotisiert. Aber einmal hab ich einen lebendigen Frosch vorgenommen, ihn mit Nägeln auf ein Brett befestigt und nun die Brust und Bauchhöhle geöffnet. Der Frosch zuckte so stark, daß er an den Nägeln bis an die Nagelköpfe heraufrutschte. Nun schnitt ich ihm das Herz heraus –
Das wollen Sie nicht hören? Nun gut, sprechen wir von etwas anderm.
Ob ich grausam bin? Nein, durchaus nicht. Aber es wäre blödsinnig, menschliches Schmerzbewußtsein in eine tierische Psyche zu verlegen, oder mein Empfinden mit dem Empfindungsmaßstab der rohen Knechte zu messen, die mit herzlicher Freude der unmenschlichen Exekution an einem ihrer Brüder zusahen.
Jetzt schwiegen sie beide.
Sie kamen an einen kleinen Hain, der einen kleinen Abhang hinab bis an den See reichte.
Es war heiß und drüben im Walde zitterte und flirrte der Mittag. Alles verschwamm in der saugenden Hitze. Der See lag schlaff und still; eine drückende Ruhe war über die ganze Gegend gebreitet.
– Ob sie sich nicht etwas hinsetzen möchte? Er wolle sie ganz gewiß nicht belästigen. Er werde sich in respektabler Entfernung hinsetzen.
Er legte sich im Moos lang hin; sie saß drei Schritte weiter auf einem Stein und spielte nervös mit ihrem Sonnenschirm.
Plötzlich setzte er sich auf.
– Warum sie denn eigentlich in die Kirche gehe? Habe sie denn nicht so viel Stolz, dort nicht hinzugehen, wo all der Pöbel hinlaufe, wo es übel rieche und die Brunst nach Glück sich so offen und so schamlos in Gebeten an den allmächtigen Herrn offenbare?
Marit dachte nach, wie sie einmal von dem schlechten Geruch und dem Schweiß all der Menschen ohnmächtig geworden war, wie man sie dann in die Sakristei getragen und ein ekelhafter Kerl ihr dort die Taille aufgerissen hatte, damit sie zu sich komme – ach, war das abscheulich! Aber sie schwieg.
– Verstehe Sie denn nicht, daß darin etwas stark Verrohendes liege?
– Nein, das verstehe sie nicht, und wolle es auch nicht verstehen. Die Religion sei ihr einziges Glück, ihre einzige Zuflucht.
– Ach so ... sagte Falk gedehnt ... Sehr gut, sehr gut.
Falk schien furchtbar müde zu sein. Er legte sich wieder lang ins Moos und machte die Augen zu.
Auf seinem Gesichte spielten die Schatten der Sträucher in einander; es war da ein Zug seltsamen Leidens.
Marit dachte nach.
Er war ein furchtbarer Mensch. Die Vorstellung der schweißriechenden Kirche wurde in ihr stärker und stärker. Ein Ekel überkam sie, der wuchs und wuchs. Sie verstand es nicht. Hatte er Recht? – Ja, und dann das ewige Herleiern von Gebeten! Sie wagte es nicht weiter zu denken. Gott, Gott, was er noch aus ihr machen werde!
Auf Falks Gesicht wurde der Zug des Leidens deutlicher und deutlicher.
Jetzt hätte sie sich ihm ans Herz werfen mögen und mit der Hand die gräßliche Falte des Leidens glätten.
Wie sie ihn glücklich sehen möchte, so glücklich, so glücklich ...
In Marits Augen zitterten Tränen.
– Mein Gott, Falk! ... aber weiter kam sie nicht.
Falk richtete sich erstaunt auf.
Sie sah beschämt zu Boden und kämpfte mit den Tränen; eine rollte nach der andern herab.
Falk rückte näher an sie heran.
Sie schien plötzlich aufstehen zu wollen.
–