Seine Mutter stand vor ihm und wollte ihm ein Kissen unter den Kopf schieben.
– Gott, was für einen furchtbaren Traum ich gehabt habe!
– Aber, liebes Kind, du ruinierst dich ja vollständig, wenn du ganze Nächte über aufbleibst.
– Nein, im Gegenteil, Mama, ich habe sehr gut geschlafen. Ich war nur so müde, daß ich gleich da, wo ich saß, einschlief. Das können nämlich gewisse Naturen ganz vorzüglich. Ich habe von einem Briefträger gehört, der im Gehen schlief und dabei 90 Jahre alt geworden ist. Übrigens, Mama; ich werde in diesen Tagen reisen; es ist für mich von großer Wichtigkeit, daß ich so schnell wie möglich nach Paris komme.
Das konnte die Mutter nicht begreifen. Warum er denn überhaupt gekommen sei? Diese lange Reise, um ein paar Tage zu bleiben?! Seine Frau werde doch ein paar Wochen ohne ihn leben können. Könne er denn seiner alten Mutter nicht die Freude gönnen und noch wenigstens zwei Wochen bleiben?
Ja, das möchte er sehr gern; Mama wisse doch genau, wie sehr er sie liebe, aber er könne unmöglich länger bleiben, er ...
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
Marit trat verwirrt herein.
Sie begrüßte die Mutter, indem sie ihr den Arm küßte. Falk reichte ihr mit zeremonieller Verbeugung die Hand.
Marit wurde noch verwirrter.
– Frau Falk dürfe es ihr nicht übel nehmen, daß sie so früh störe, aber sie sei zur Frühmesse mit Papa gekommen, und Papa habe noch etwas in der Stadt zu besorgen.
Frau Falk entschuldigte sich zehnmal, daß noch nicht aufgeräumt sei, aber Erik, der Faulpelz, habe bis jetzt geschlafen.
– Denken Sie sich, fuhr Frau Falk fort, er ist hier im Speisezimmer eingeschlafen, anstatt sich ordentlich ins Bett zu legen. Übrigens ist das sehr gut, daß Sie gekommen sind, Marit; Sie müssen mir helfen, Erik zurückzuhalten. Er will durchaus wegfahren.
Marit sah erschrocken auf.
– Wie? Sie wollen schon fahren?
– Ja, das müsse er ganz entschieden. Er müsse anfangen, ein wenig zu arbeiten; er könne hier nichts tun.
Marit saß wie erstarrt, und sah mit weiten, ängstlichen Augen auf Falk.
– Übrigens habe es gar keinen Zweck, daß er so müßig dasitze; das Leben sei hier so eng, so unausstehlich eng ... Ja, Mama, teure Mama, du darfst mir das nicht übel nehmen, aber ich bin an das Weite, Große, Freie der Großstadt gewöhnt. Ich kann nicht ertragen, daß die Menschen hier sich nach mir umsehen und mich anglotzen. Und dann diese Enge, diese Enge.
Marit saß nachdenklich da; es schien, als ob sie nichts hörte.
– Ja, ja, sie müsse nun gehen; Herr Falk werde doch jedenfalls zur Abschiedsvisite kommen.
Aber sie durfte nicht gehen: Frau Falk deckte den Tisch und brachte den Kaffee.
Falk und Marit saßen sich gegenüber. Frau Falk ließ ihre klugen grauen Augen von dem Sohn zu dem Mädchen schweifen.
Falk grübelte. Plötzlich richtete er seine Augen auf Marit und betrachtete sie aufmerksam.
– Es ist doch sonderbar, was Sie für eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Mädchen haben, das ich in Kristiania getroffen habe.
Falk sprach ganz trocken, im berichtenden Reporterton.
– Sie war furchtbar lieb, und um die Stirn hatte sie eine Flut von rotblonden Haaren, das sah wie die nordische Frühlingssonne aus.
Übrigens sehen Sie ziemlich angegriffen aus, Fräulein Marit. Es ist sonderbar, daß ihr gar nicht froh werden könnt; das macht wohl eure Religion, die Fröhlichkeit für eine Sünde hält?
Falk betonte höhnisch das »eure«.
– Nein, nein: Mama brauche gar nicht so empört zu sein, er meine es nur so en passant.
Wieder entstand ein Stillschweigen.
Frau Falk sprach von ihrem verstorbenen Manne, wobei ihr die Tränen in die Augen traten.
Marit erhob sich.
– Sie müsse jetzt gehen. Sie könne auf Papa nicht warten; bei ihm dauerten fünf Minuten immer eine Ewigkeit, und sie habe jetzt, wo Mama im Bade sei, sehr viel zu tun.
Falk erhob sich gleichfalls.
– Ob er sie begleiten dürfe. Ein Spaziergang würde ihm sehr gut tun, und es sei gleichgültig, ob er die Richtung nach Johannisthal oder mit Marit nach Elbsfelde einschlage.
– Ja, wenn es ihm Vergnügen mache ...
Lange gingen sie stillschweigend nebeneinander.
Falk hatte den Hut in die Augen gedrückt, hielt nachlässig die Hände in den Taschen und schien tief über etwas nachzudenken.
Und wieder sah Marit ein Mal über das andre zu ihm auf, aber er schien es durchaus nicht sehen zu wollen.
– Ist es wirklich wahr, daß Sie fahren wollen?
– Falk sah sie an, als hätte er sie nicht verstanden, mit kaltem, müdem Blick.
– Ach so! Fahren? Freilich, ja, ganz gewiß. Was soll ich denn hier machen? Sie dürfen nicht glauben, daß es ein Vergnügen sei, sich in Ihrer Nähe zu quälen; davon hab ich jetzt genug. Ja, ich will fahren; vielleicht heute schon. Übrigens ist nur alles egal; und wahrscheinlich werde ich tun, was mir grade einfallen wird.
Über Marits Wangen liefen zwei große Tränen.
– Das dürfe er nicht tun. Alles sei Lüge, was er ihr von Liebe spreche. Das könne ein Mensch, der liebt, nicht tun.
– Aber um Himmelswillen, sagen Sie mir, was Sie von mir wollen? Ja sagen Sie nur: Sie wissen doch sehr gut, daß Sie mir das größte Glück geben könnten, wenn ich Sie nur küssen dürfte; das erlauben Sie nicht. Ich will mit Ihnen von etwas sprechen, das in mir wühlt; das darf ich auch nicht. Also was – was?
Marit weinte.
– Sie haben ja gesagt, daß ich Sie nicht lieben darf, daß Sie mir nichts geben können! Sagten Sie nicht, daß Sie unmöglich von mir Liebe nehmen könnten?
– Gott, ich habe Ihnen ja erklärt, warum ich das sagte. Übrigens, wenn auch Hindernisse vorhanden wären, verstehen Sie nicht das unendliche Glück des Augenblickes?
Marit sah ihn erstaunt an.
– Was wollen Sie – was wollen Sie von mir? Sprechen Sie ganz offen.
– Was ich will? Was ich will? Tja! Weiß ich?
– Ja, Sie wollen mich verderben! Sie wollen mich ins Unglück stürzen, um dann wegzufahren – nicht wahr?
– Verderben? – Unglück? – Engländer wollen das Glück ... Lächerlich, ekelhaft, dieses satte Glück von Müller und Schulze! Können Sie nicht begreifen, daß das höchste Glück in einer Sekunde liegt? daß es ekelhaft ist, in ewigem Glück herumzuplantschen? – Was ich von Ihnen will? Zwei, drei Stunden Glück, und dann weg, weit weg! Das Glück ist schamhaft; man entehrt es, macht es unanständig, wenn man es lange genießt.
– Gott, quälen Sie mich nicht so furchtbar. Ich kann es nicht aushalten. Wollen Sie denn, daß ich zu Grunde gehe!
– Nein, das will ich nicht. Sprechen wir nicht mehr davon. Es ist ja Wahnsinn, daß ich immer um den einen Gedanken herumgehen muß; das will ich nicht mehr. Ich will nichts mehr sagen. Ich will gut zu Ihnen sein, ganz gut. Sie müssen nur nicht weinen. Nein, das dürfen Sie nicht.
Falk war ganz verzweifelt; ein tiefes Mitleid würgte ihn.
– Ja, ja, weinen Sie nicht; ich werde gut sein und vernünftig und sehr lustig. Soll ich Ihnen etwas sehr schönes erzählen?
–