Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
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Drüben dämmerte der Wald in ein tiefes Dunkel hinein, und der See lag so klar und weich, ganz erfüllt von den ruhigen Reflexen der Abendröte.

      Falk blieb stehen.

      Wie konnte er nur so schnell vergessen, was er gestern gesprochen; die ganze Geschichte wurde nun zu einer lächerlichen Komödie; ja, zu einer dummen, knabenhaften, ungeschickten Komödie.

      Aber Marit, hm, vertraute ihm ja blind; nein, sie hatte nichts gemerkt, sie glaubte an alles, was er sagte: Nein, sie würde selbstverständlich eine willkürliche Absicht nicht im geringsten vermuten.

      Falk beruhigte sich wieder. Er legte sich am Ufer hin und schaute gedankenlos auf den See.

      In seinem Gehirn gärte eine dunkle Masse von Gedanken; nur hin und wieder zuckten einzelne Assoziationen, Bilder, abgerissene Schlagworte in ihm auf.

      Und wieder fing er an zu gehen, langsam, angestrengt; er wollte sich auf etwas besinnen, er mußte sich aufraffen, an etwas zu denken, ja, sich etwas ganz klar zu machen.

      Es dunkelte. Von den benachbarten Dörfern schimmerten schon winzige Lichterchen herüber. Ab und zu hörte er ein Wagengeklapper auf der Landstraße, dann horchte er auf das Gezirpe der Heupferdchen und auf das Gequak der Frösche in den Teichen.

      Ja, was wollte er denn eigentlich?

      Er war doch kein gewerbsmäßiger Verführer. Er hatte niemals nach dem lächerlichen Ruhm getrachtet, ein Weib zu verführen, nur um sie zu besitzen. Nein, das war es nicht.

      Seine Gedanken wollten sich nicht weiter bewegen; er setzte sich hin auf den Rasen und schaute hinüber nach dem schwarzen Waldsaum.

      Etwas dämmerte in seiner Seele, und allmählich stieg ein Bild in ihm auf, das Bild einer Frau, mit ihrer Grazie, dieser verfeinerten Grazie aussterbender Adelsgeschlechter; ihm war, als strecke sie ihm ihre schmale, lange Hand entgegen und sehe ihn so lieb, so gut mit ihren Augen an.

      Ja, das war seine Frau. Fräulein Perier.

      Falk lächelte, war aber gleich wieder ernst.

      Er liebte sie. Sie hatte die große Mannesintelligenz, die alles verstand, die sogar ihn verstanden hatte. Sie hatte die große, feine Schönheit, nach der er so lange, so lange gesucht.

      So stand sie. Falk vergegenwärtigte sich ihre Bewegung: damals, das erste Mal: das Zimmer im mattroten Halbdunkel – Gott, wie schön sie war! Er hatte damals gleich verstanden, daß er sie lieben mußte, und er liebte sie.

      Ja, ganz gewiß. Jetzt sehnte er sich nach ihr. Jetzt möchte er in dem großen Lehnstuhl an seinem Schreibtisch sitzen und sie auf seinen Knien halten und ihre Arme seinen Hals umschlingen fühlen.

      Wie kam es nur, daß er Marit niemals vergessen konnte?

      In dem tollsten Liebesglück sah er plötzlich das Gesicht seiner Frau in ein fremdes übergehen, in ein kleines, schmales Kindergesicht; er sah es sich allmählich verwandeln, bis er es plötzlich erkannte. Das war Marit.

      Und dann konnte er unaufhörlich dies Gesichtchen anstarren, und fühlte, wie seine Hände schlaff wurden, wie seine Gedanken sich in die Vergangenheit zurückfanden, in die Zeit, die er mit Marit verbracht, als er grade jetzt vor einem Jahr in die Heimat gekommen war und sie dort zum ersten Male getroffen hatte.

      Und wieder fühlte er deutlich die Erschlaffung in seinen Gliedern, und wieder fühlte er die seltsame Sehnsucht nach dieser Liebe, die doch nur Schmerzen geben konnte, diese unerhörte Qual, ein Weib zu begehren und es nicht besitzen zu können.

      Wie glücklich war er mit seiner Frau, bevor er Marit gesehen hatte. Und nun stand sie zwischen ihnen und machte ihn traurig und wütend, weil er sie immer überwinden mußte, immer von neuem in sich töten, wollte er zu seiner Frau gelangen.

      Warum war er nur wieder hergekommen?

      Was wollte er von Marit? Warum belog er sie, warum quälte er sie, wozu spielte er die ganze Komödie?

      Ja, wenn er das begreifen könnte!

      Er wollte doch etwas. Er mußte doch einen Zweck haben. Irgendwo hinter allem Bewußtsein, hinter aller Logik mußte der verborgene Zweck doch liegen, der für seinen Willen im Unbewußten ausgesteckt war.

      War es das Geschlecht, das im Verborgenen auf ein neues Opfer lauerte?

      Nein, das war unmöglich. Nein! es wäre eine unerhörte Schurkerei, ein Kind zu zerstören, diese reine Taubenseele zu beschmutzen. Nein, das würde er niemals.

      Ja: doppelt, tausendfach unmöglich. In zwei Wochen kehrte er ja zu seiner Frau zurück; er würde sonst ja in die scheußlichsten Konflikte mit seinem Gewissen kommen.

      Ja, das ekelhafte Gewissen. Da drüben in Paris zu sitzen und fortwährend zu denken: jetzt liegt sie ausgestreckt am Boden und windet sich und fleht Gott um Gnade an. Nein, nicht eine Minute würde er Ruhe haben. Nein, das wäre zu schrecklich: das ganze Leben mit diesem einen Bilde, mit diesem einen Gedanken, mit dieser ewigen Unruhe des quälenden Gewissens.

      Er stand auf und ging langsam weiter.

      Es war inzwischen dunkel geworden und über den Wiesen stiegen leuchtende Nebel, wie mächtige Rauchwolken, dampfend und wogend empor.

      Falk blieb stehen, sah in dieses Meer, das alles überflutete, und sann nach über etwas, worauf er sich nicht besinnen konnte; er fühlte sich in seinem Kopfe wie gelähmt.

      Über die eine Frage, was er denn eigentlich wolle, konnte er gar nicht hinüberkommen.

      Marit sah er plötzlich vor sich. Ja, sie sah herrlich aus, wie sie da auf dem Steine saß mit dem wunderbaren roten Widerschein von der Krempe ihres großen Sommerhutes. So schlank, so fein ...

      In seiner Seele begann ein heißes Beben: er hörte das leise Stammeln des Geschlechtes.

      Nein: das Gewissen! mein Gott – Falk mußte lächeln: Der große Übermensch, der starke, mächtige, ohne Gewissen! Nein, der Herr Professor hatte die Kultur vergessen, die tausend Jahrhunderte, die sich abgemüht es zu erzeugen. Mit dem Verstande freilich ließ sich alles wegbeweisen; mit dem Verstande sollte man ja auch, logisch genommen, alles überwinden können, selbst ein Gewissen. Aber man konnte es dennoch nicht.

      Was nützte ihm all sein Verstand; hinter jeder Logik lauerte doch immer wieder das furchtbar Unlogische, das doch endlich siegte.

      Und wieder dachte Falk an Marit und seine Liebe zu ihr. Ja, ihn interessierte das am Ende nur: dieser sein Fall. Dieser Fall von Doppelliebe war wirklich äußerst interessant.

      Das war ihm klar: er liebte beide. Ja, ganz zweifellos. Er schrieb doch die wütendsten Liebesbriefe an seine Frau und belog sie nicht, und zwei Stunden später sagte er Marit, daß er sie liebe, und belog, weiß Gott, auch sie nicht.

      Jetzt fing Falk zu lachen an.

      Aber hinter dem Lachen fühlte er einen beißenden Schmerz, eine merkwürdig giftige Wut.

      Freilich hatte er das Recht, Marit zu lieben; warum nicht, wer hatte es ihm verboten? Wer hatte ihm, ihm etwas zu verbieten? Sollten Moralgesetze, die von rohen Menschen, von dummen, unpsychologischen Gesichtspunkten aus gemacht waren, bindender sein als die Macht seines Empfindens?

      Warum sollte er sie nicht verführen, wenn er sie begehrte? Warum sollte er sie nicht besitzen, wenn er sie liebte und sie ihn?

      Ja, sie liebte ihn doch. Was also verbot ihm seinen Willen? Moral? Heiliger Himmel, was ist Moral?

      Er kannte keine Moral, außer der seines Empfindens; und in diesem seinem Empfinden war kein einziges Gesetz enthalten, das den Willen anderer Menschen hätte bestimmen wollen.

      Er fuhr auf. Von einem nahen Hofe her bellte ein Hund, und bellte immer lauter, immer heftiger.

      Dumme idiotische Bestie!

      Falk bog in einen Wiesenpfad, der an dem Kirchhof vorüberführte.

      Auf dem Kirchhof rauschten die Blätter der Silberpappeln mit ihrem unheimlichen Ernste. Aus dem Dunkel hoben