– Wer hat Sie denn gepflegt?
– Ja, das ist eine sehr merkwürdige Dame. Sie ist sehr intelligent und spielt ganz wunderbar Klavier. Oh ja, sie hat den Verstand von einem Manne.
– Ist das die Mutter von dem Kinde?
– O nein, mit der Mutter habe ich nichts zu schaffen.
Marit sah erstaunt zu ihm auf.
– Aber Sie haben doch gestern gesagt, daß sie die Dame nicht los werden können? Sie sagten, sie habe sich wie eine Klette an Sie gehängt.
Falk wurde verwirrt.
– Hab ich das wirklich gesagt?
– Ja, das haben Sie gesagt; sie sagten sogar, daß wir nur deshalb nicht glücklich werden können.
Falk dachte nach.
– Dann muß ich wirklich betrunken gewesen sein. Nein, ich verstehe nicht ...
Er stellte sich, als sei er maßlos über sich verwundert. Marit mußte ihm haarklein das Gespräch von gestern wiederholen.
– Ja, ja; ich war wirklich betrunken. Nein, Sie dürfen nichts, durchaus nichts darauf geben, was ich in solchem Zustand sage; dann pflege ich nämlich zu komponieren.
Marit sah ihn mißtrauisch an.
– Sie müssen mir glauben; ich pflege nämlich, wenn ich betrunken bin, die merkwürdigsten Geschichten zu erzählen. Nein: die Mutter ist verschwunden. Ich glaube, sie ist jetzt Modell, oder so was ähnliches, und wohnt mit einem Bildhauer zusammen.
Marit wurde sehr froh; sie lächelte.
– Also war die ganze Geschichte von gestern eine Komödie?
– Ja, ja, beeilte sich Falk zu antworten, aber das war eine Komödie, die ich im besten Glauben aufgeführt habe; ich habe nämlich an alles geglaubt, was ich sagte.
Marit konnte es noch nicht verstehen, aber sie schwieg. Falk wurde unruhig.
– Nein, nein, mit der Mutter habe ich schon lange nichts mehr zu schaffen. Die Dame, die mich gepflegt hat, ist eine ganz andere; sie heißt Fräulein ... Perier. Zwei Wochen hat sie an meinem Bette gesessen, meine furchtbaren Launen mit der Geduld eines Engels ertragen und mir die wunderbarsten Geschichten vorgespielt; Tag und Nacht saß sie bei mir.
– Wohnte sie denn bei Ihnen?
Falk machte ein erstauntes Gesicht.
– Ja, was ist denn dabei? In Europa – er unterstrich das Wort – existiert eine große Freiheit im Verkehr zwischen Frauen und Männern. Da gibt es nicht die blödsinnigen Vorurteile wie hier. Hier kann eine Dame mit einem Menschen offiziell vor aller Welt verlobt sein, und hinter dem Paar müssen doch die Mutter und zwei Tanten herlaufen. Nein, in Europa gibt es keine religiösen noch konventionellen Vorschriften in Sachen der Liebe. Da ist sich ein jeder selbst Vorschrift und Gesetz.
Ja, ja, dort ist es so frei, so frei. Herrgott, wie eng, wie unausstehlich eng ist es hier.
Hier gibt es Gesetze und Schranken und Polizeimaßregeln; die Menschen sind so eingezwängt – in tausend idiotische: das darfst du und das darfst du nicht!
Falk dachte nach.
Warum haben Sie sich denn gestern so heftig losgerissen? Darf man eine Schwester oder eine Freundin nicht küssen, was ist denn dabei?
– Nein, das könne sie nicht. Sie würde sich selbst verachten müssen. Sie würde ihm nicht mehr frei ins Gesicht sehen können. Und würde er auch nur eine Spur von Achtung vor ihr haben?
Falk lachte ganz laut mit offenem Hohn.
– Achtung? Achtung?! Nein, wo habe er nur das Wort verloren, was sei das eigentlich? Nein, er kenne überhaupt nicht das Wort noch einen solchen Begriff. Er kenne nur freie Weiber, die sich selbst Gesetz sind, und dann kenne er Weiber, die Sklavinnen sind und ihre Instinkte in idiotische Formeln pressen. Und unter diesen Sklavinnen unterscheide er Weiber mit starken Instinkten, die Macht und Schönheit und Herrlichkeit genug haben, um mit stolzer sieghafter Majestät die blödsinnigen Stricke zu zerreißen, und wiederum Weiber mit schwachen Instinkten – mit einem Worte: das Nutzvieh, das verkauft werden könne wie jede andere Ware, das gehorsam sei wie jedes andere Hausvieh.
– Also müsse er das Weib, das ihm ein Kind geboren und nachher zu einem Andern gelaufen sei, sehr hochschätzen?
– Das nicht, denn er kenne keine Wertschätzung. Sie sei nur dahin gegangen, wohin sie ihre Instinkte zogen, und das sei gewiß sehr schön.
– Nein, das ist häßlich, abscheulich!
– Hm, wie Sie wollen.
Marit wurde sehr gereizt.
– Und das Fräulein – wie heißt sie doch?
– Perier.
– Ja, dann müßte er doch Fräulein Perier als das höchste Ideal betrachten; warum liebe er sie dann nicht?
– Freilich, in der Tat sei Fräulein Perier das intelligenteste Weib, das er getroffen –
Marit zuckte auf.
– Daß er sie nicht liebe, komme nur daher, weil das Geschlecht, mit dem man nämlich liebe, völlig unabhängig vom Gehirne sei. Bei der Liebe pflege das Gehirn nicht um Rat befragt zu werden.
– Das sind also die Weiber, die Ihnen gefallen!
Marit weinte fast. Dies Fräulein Perier sei eine schlechte Person! Ja, das wisse sie ganz genau.
– Ja, ja, ja; so urteilt man vom Standpunkt der Formel und des Katholizismus.
Beide schwiegen. Falk war steif und trocken und gab deutlich zu verstehen, daß jedes Reden umsonst sei.
Marit litt. Sie fühlte nur die eine Frage: warum er ihr denn gestern alle diese Geschichten erzählt habe, von dem Weibe, das an ihm wie eine Klette hänge.
– Die Mutter ist also von dem Kinde weggelaufen? Falk, seien Sie offen! Ich habe mich die ganze Nacht damit gequält; ich bitte Sie sehr darum.
– Warum müsse sie denn das durchaus wissen?
– Ja, ich muß, ich muß.
Falk sah erstaunt zu ihr auf.
– Ja, ich habe Ihnen doch gesagt. Übrigens, wie könnte mich ein anderes Weib pflegen, wenn sie bei mir wäre.
Marit beruhigte sich. Er hatte also kein Weib um sich. Sie war ihm fast dankbar. Von Zeit zu Zeit sah sie ihn an; sie hatte etwas in ihrem Blick, etwas von einem Kinde, das abbitten möchte, aber zu stolz dazu ist.
Falk sah hartnäckig zu Boden.
So kamen sie an die Gartentür.
– Ob er nicht zum Abendessen bleiben wollte? Papa werde sich sehr freuen. Papa habe sie gebeten, ihn zurückzuhalten. Er habe so vieles mit ihm zu besprechen.
Aber Falk konnte unmöglich bleiben; er war sehr höflich, aber eisig kalt.
Dann ging er, nachdem er sich sehr korrekt verbeugt hatte.
Marit sah ihm lange nach: Jetzt müsse er sich doch nach ihr umdrehen.
Falk ging und sah sich nicht um.
Mein Gott, mein Gott, seufzte Marit qualvoll auf; was habe ich ihm denn eigentlich getan?
Sie ging in ihr Zimmer hinauf und zündete das Öllämpchen vor dem Bilde Marias an; dann kniete sie nieder und warf sich auf den Boden vor dem mildlächelnden Antlitz der wundertätigen Jungfrau.
III.
Erik Falk ging nicht