»Appaloosas«, ergänzte Bettina geduldig. »Ja, das weiß ich. Ende des 19. Jahrhunderts waren diese wunderbaren Tiere fast ausgestorben, es gab nur noch wenige Züchter, aber dann wurden sie 1938 registriert, sie bekamen ein Zuchtbuch, und dann ging es aufwärts, jetzt sind sie in Amerika so verbreitet wie eine andere Rasse.«
»Und warum gibt es sie bei uns nicht?«
»Es gibt sie schon, aber in Deutschland werden sie fast nur zum Westernreiten eingesetzt, nicht, wie in den USA, auch beispielsweise als Dressur- und Springpferd. Bestimmt liegt das daran, dass wir in Deutschland eine lange Tradition anderer Züchtungen haben, wie beispielsweise die Hannoverander, die Oldenburger, Holsteiner, Trakehner …«
»Woher weißt du das alles?«
»Weil ich Pferde unheimlich gern mag. Sie sind meine Freunde … Ich habe auch Pferdebücher, wenn du magst, leihe ich dir welche aus. Es gibt darunter auch welche mit wunderschönen Bildern.«
»Ja, das ist super.«
Die Tür zum ehemaligen Gesindehaus öffnete sich, ein hochgewachsener Mann mit kurzen braunen Haaren kam heraus. Er trug eine dunkle Jeans, ein weißes Hemd, dessen oberen beiden Kragenknöpfe offen waren.
Mit wenigen Schritten war er bei Astrid, nahm sie bei der Hand.
»Astrid, du sollst doch nicht immer andere Leute behelligen«, sagte er, dann wandte er sich an Bettina. »Bitte, entschuldigen Sie.«
Ehe Bettina etwas sagen konnte, zog er seine Tochter mit sich fort.
»Bettina ist nett«, maulte Astrid, »und ich habe sie nicht behelligt, wir haben bloß miteinander geredet.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete er voller Geduld. »Aber jetzt fahren wir in die Stadt, und da bekommst du eine Puppe, die du dir sosehr wünschst.«
»Papa, ich möchte auch ein Pferdebuch haben, in dem Bilder mit Appal …, ich weiß den Namen nicht mehr genau«, sagte Astrid ganz unglücklich.
»Bestimmt meinst du Appaloosas, mein Herz, richtig?«
Er kannte sich also auch aus.
»Ja, genau, Papi, und über die gibt es eine ganz, ganz tolle Geschichte …«
Das Weitere konnte Bettina nicht mehr verstehen, denn sie waren schon zu weit, Richtung Parkplätze, entfernt.
Ein sympathischer Mann, dachte Bettina, und er ging offensichtlich liebevoll mit seiner kleinen Tochter um. Zum Glück, konnte man da nur sagen, denn sie hatte jetzt ja nur noch ihren Vater.
Bettina wollte gleich mal zu Leni gehen und sich bei ihr nach den neuen Gästen erkundigen. Vielleicht wusste die ja etwas über den Tod von Astrids Mutter. Ob sie krank gewesen war? Vielleicht verunglückt?
Es konnte viele Gründe geben, einer schied jedoch aus, junge Menschen starben nicht an Altersschwäche.
Sie würde der kleinen Astrid auf jeden Fall die Pferde zeigen, wenn der Vater der Kleinen damit einverstanden war, konnte sie dem Mädchen unter anderem zeigen, wie man Pferde striegelte, Hufe auskratzte. Sie konnte sie auch mal, wie sie es schon mit ihrem Neffen Niels und ihrer Nichte Merit getan hatte, einfach auf ein Pferd setzen.
Viele Therapeuten arbeiteten
mit sehr großem Erfolg mit Pferden, ganz besonders bei Kindern, die traumatisiert waren oder behindert. Traumatisiert kam ihr die kleine Astrid nicht vor, aber sie war unendlich traurig, weil sie ihre Mutter verloren hatte. Der Umgang mit den Pferden würde ihr vielleicht helfen. Spaß machen würde es ihr auf jeden Fall, denn alle kleinen Mädchen waren verrückt nach Pferden.
Bettina hatte das Haus der Dunkels erreicht, stürmte förmlich hinein.
»Leniiii«, schrie sie schon von der Tür her, aber es kam keine
Antwort, weil Leni ganz einfach nicht im Haus war.
Auf dem Herd brodelte köstlich duftendes Essen vor sich hin. Weit konnte die gute Leni also nicht sein, aber warten wollte Bettina jetzt auch nicht auf sie. So groß war ihre Neugier nun auch wieder nicht. Sie würde beizeiten alles über diesen neuen Gast und seine liebreizende Tochter Astrid erfahren.
Bettina stibitzte sich aus der auf dem Küchentisch stehenden silbernen Schale seinen Keks, schob ihn in den Mund, dann verließ sie wieder das Haus.
Als sie über den Hof lief, kamen ihr die beiden Hunde entgegengeschossen, sprangen freudig bellend an ihr hoch.
Bettina beugte sich herunter und streichelte die beiden Tiere, die wirklich von allen Hofbewohnern geliebt, leider auch verwöhnt wurden. Jeder hier steckte ihnen Leckerli zu, da bildete sie selbst leider auch keine Ausnahme. Aber wer konnte schon diesen bettelnden, treuherzigen Blicken widerstehen.
»Ja, ja, meine Guten, ich weiß schon, was ihr wollt. Es ist schließlich immer das Gleiche mit euch … Leckerli wollt ihr haben. Aber da müsst ihr schon mit zu meinem Haus kommen, dort steht noch eine volle Dose auf dem Fenster.«
Max und Goldie wussten ganz genau Bescheid, sie rannten vor, setzten sich vor besagtes Fenster und ließen die Dose nicht aus den Augen und konnten es kaum erwarten, dass Bettina sie endlich herunternahm, was sie mit erwartungsvollem Gebell begrüßten.
*
Da sie es nur selten machten und es keine Gewohnheit bei ihnen war, genossen Bettina und ihre Freundin Linde es, nach Bad Helmbach zu fahren und zu sehen, was die Reichen und die Schönen so alles trieben, und immer wieder fragten sie sich, wie es sein konnte, dass sie nur wenige Kilometer von ihrem beschaulichen Fahrenbach entfernt in eine andere Welt tauchten, in der nach dem Motto gelebt wurde: Geld regiert die Welt. Die Herren der Schöpfung überboten sich bei den Luxusautos, während die Damen taubeneiergroße Brillis zur Schau trugen und natürlich die teuersten Designerklamotten, hippesten Schuhe, und eines hatten sie alle, fast alle, gemeinsam, diese sorgsam modellierten Gesichter mit den feinen Näschen, erstaunt aufgerissenen Augen und aufgespritzten Lippen. Im Grunde genommen waren sie austauschbar. Ihre Schwester Grit und mehr noch ihre ehemalige Schwägerin, hätte man gut einreihen können, sie wären durch nichts aus dem Rahmen gefallen, noch nicht einmal durch die gerade angesagte Handtasche.
Bettina und Linde waren die Einkaufsstraßen entlanggebummelt, hatten gemütlich in dem kleinen, von den Schicki-Mickis noch immer nicht entdeckten Café etwas getrunken, und nun wollten sie eigentlich nur noch zu dem Kinderladen, an dem sie niemals vorübergehen konnten, auch wenn die Preise dort unglaublich hoch waren.
Auf dem Weg dorthin überlegte Linde, ob sie sich ein Paar sehr ausgefallener Schuhe zu einem gerade noch vertretbaren Preis kaufen sollte.
Sie standen vor dem Schaufenster und drückten sich die Nase platt.
»Glaubst du, dass Christian die Schuhe gefallen könnten?«, fragte Linde ihre Freundin. »Es ist schon komisch. Ich plane, mit ihm mein Leben zu verbringen, aber viel weiß ich nicht über ihn, und dich kann ich auch nicht ausfragen, weil du ihn ja auch nicht viel früher kennengelernt hast. Was meinst du?«
Bettina zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht, eher glaube ich, dass es ihm egal sein wird, weil er den Wert eines Menschen nicht von äußeren Dingen abhängig macht. Du wirst ihm mit diesen hochhackigen Dingern nicht besser gefallen als jetzt. Und, ganz ehrlich einmal, Linde, wann willst du sie anziehen? Wenn du in deinem Gasthof arbeitest, vielleicht gerade mit einem vollbeladenen Tablett herumjonglieren musst, weil der Laden rappelvoll ist und du einspringen musst? Oder wenn du mit den Zwillingen zum Kinderarzt gehst? Wenn wir am See entlangwandern? Außerdem, du hast in deiner Aservatenkammer noch so viele Schuhe, die deine Füße, außer bei der Anprobe, noch niemals gesehen haben.«
Linde hielt sich lachend die Ohren zu.
»Ist ja schon gut, du hast mich überredet, ich kaufe die Schuhe nicht.«
»Nicht überredet, meine Liebe, überzeugt habe ich dich hoffentlich.«