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Christian weilte nun schon fast zwei Tage in Deutschland, ohne dass Bettina etwas von ihrem Bruder gehört hatte. Auch ihre Freundin Linde hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Insgesamt wertete sie das ja als positives Zeichen, denn andernfalls wäre Christian längst mit seinem Rucksack oben auf dem Fahrenbach-Hof aufgetaucht.
Aber jetzt wollte sie sich persönlich davon überzeugen, dass alles in Ordnung war. Und es passte sehr gut. Bettina war auf dem Heimweg von ihrem Steuerberater, und statt noch ein Stückchen geradeaus zu fahren, um dann rechts auf den Hügel abzubiegen, der als Privatstraße zum Fahrenbach-Hof führte, machte sie einen Schlenker nach links ins Dorf hinein, um kurze Zeit später auf dem Marktplatz zu landen.
Sie parkte direkt vor dem Gasthof, der in seiner ganzen Pracht, flankiert von den beiden jahrhundertealten Linden immer wieder beeindruckend war.
Bettina stieg auf und ging in die Gaststube hinein, die beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt war, die Bedienungen flitzten beladen mit Tabletts hin und her. Bettina fragte sich immer wieder, wie die Frauen es schafften, so beladen auch noch graziös auszusehen. Als Serviererin wäre sie selbst absolut fehl am Platze, für diesen Job hatte sie zwei linke Hände.
Eine der Frauen blieb stehen, als sie Bettina sah.
»Die Chefin arbeitet heute nicht, sie ist oben in der Wohnung.«
Bettina bedankte sich, die junge Frau flitzte weiter.
Das war ein Zeichen, dachte Bettina, Linde musste es total erwischt haben, denn sonst würde sie niemals Arbeit Arbeit sein lassen und sich ihrem Privatleben widmen. Das passte nicht zu Linde. Sie war viel zu pflichtbewusst und hatte auch sehr genau ihr Geschäft und damit den Umsatz im Auge.
Freilich, zu Lebzeiten von Martin hatte sie sich hier und da auch eine Auszeit genommen, die beiden hatten auch mehr als einmal ihren Urlaub verlängert, weil es ihnen in Portugal, ihrem Lieblingsreiseziel, so gut gefallen hatte und sie dort so unbeschreiblich glücklich gewesen waren.
Bettina verließ die Gaststube und stieg die Treppe zum Wohnbereich hinauf.
Aus dem Wohnzimmer hörte sie Lindes Stimme. Leise öffnete Bettina die Tür und konnte sich an der sich ihr bietenden Idylle nicht sattsehen.
Linde saß gelöst, mit unbeschreiblich glücklichem Gesichtsausdruck in einem Sessel und schaute auf den Boden, wo Christian auf einer dicken Kuscheldecke saß und mit den Zwillingen spielte, die vor lauter Glück laut juchzten und mit ihren Beinchen strampelten und ihre Ärmchen bewegten, um nach etwas zu greifen, was Christian ihnen mit unglaublicher Ausdauer immer wieder hinhielt.
Eine Zeile aus Hermann Hesses Gedicht ›Die Stufen‹ fiel ihr ein … und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …
Ja, einen solchen Zauber konnte man spüren, man war von ihm gefangen und fasziniert. Bettina stand stumm da und schaute immer nur auf das sich ihr bietende, so sehr zu Herzen gehendes Bild.
Linde war es, die sie zuerst bemerkte.
»Hey«, rief sie, »das ist eine Überraschung.«
Bettina trat näher.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten gehen«, lachte sie.
Linde stand auf, umarmte ihre Freundin.
»Entschuldige«, murmelte sie, »spätestens heute Abend hätten wir aber angerufen.«
Auch Christian hatte sich erhoben, um seine Schwester zu begrüßen, was ein augenblickliches Gebrüll der Zwillinge zur Folge hatte.
Bettina kniete sich auf den Boden, um Amalia und Frederic zu begrüßen, doch die beiden hatten heute mit ihrer Patentante nichts am Hut und brüllten weiter, solange, bis Christian sich wieder auf die Decke setzte und mit ihnen das Spiel wieder aufnahm.
Ein letzter Schluchzer, dann lachten sie wieder ihr glückliches, glucksendes Lachen.
»Mein Schatz, da die Kleinen mit dir so glücklich sind, kann ich dich ja mit ihnen allein lassen«, sagte Linde und zog Bettina mit sich fort, über den langen Flur bis zur Küche, die am Ende des Ganges lag, direkt neben dem Esszimmer, in dem sie schon so viele schöne Stunden verbracht hatten, damals, als Martin noch gelebt hatte. Würde es mit Christian auch so schön werden? Würde die alte Clique wieder zusammenfinden, so wie früher? Nein, so wie früher würde es niemals mehr werden. Martin lebte nicht mehr, Thomas war nicht mehr in ihrem Leben, Markus hatte sich durch die Heirat mit Yvonne verändert. Die Vergangenheit ließ sich nicht zurückholen, man konnte sich allenfalls an das, was schön gewesen war, erinnern und sich mit Freude der Gegenwart widmen.
Linde zerrte ihre Freundin in die Küche, schloss sorgsam die Tür.
»Setz dich«, sagte sie und drückte Bettina förmlich auf einen der alten Bauernstühle, die so ähnlich waren wie die bei Bettina. Aber kein Wunder, die Ahnen von Linde und Markus lebten beinahe so lange in Fahrenbach, wie die von Bettina. Und Linde gehörte auch zu den Menschen, für die Tradition einen hohen Stellenwert hatte.
Linde setzte sich ebenfalls, holte tief Luft und sagte dann leise, beinahe flüsternd: »Du glaubst nicht, was ich dir zu erzählen habe.«
Was sollte das denn?
Das brauchte sie ihr doch überhaupt nicht zu erzählen, schon gar nicht in einem so geheimnisvollen Ton. Ein Blinder hätte es sehen können, dass Linde und Christian zueinandergefunden hatten.
»Du willst mir sagen, dass Christian und du …, dass ihr euch nahe gekommen seid, dass ihr euch verliebt habt …, nein, dass ihr euch liebt.«
Linde winkte ab.
»Das auch, aber es ist noch etwas anderes, etwas ganz Unglaubliches geschehen.«
Linde war doch sonst nicht so umständlich und auch nicht so aufgeregt. Was konnte wichtiger sein, als endlich seine Gefühle zu offenbaren, die dann auch erwidert wurden?
»Komm, spann mich nicht länger auf die Folter«, entgegnete Bettina.
Linde holte tief Luft, beugte sich über den Tisch, ihre Stimme wurde noch leiser, so leise, dass Bettina fast Mühe hatte, ihre Freundin zu verstehen.
»Martin ist einverstanden …, ich mein …, er findet das mit … Christian und mir okay.«
Bettina warf einen zweifelnden Blick auf ihre Freundin. Hatte sie den Verstand verloren? Musste sie sich etwas einreden, um zu ihrem Glück stehen zu können?
Aber nein, Linde sah glücklich, zufrieden und irgendwie vollkommen gelöst,