Sie wollten mit ihrem Partner glücklich sein, ihr Leben genießen, Höhen und Tiefen gemeinsam durchleben und auch am Alltag nicht zerbrechen, der zum Leben gehörte.
Also, an ihr lag es nicht. Vielleicht geriet sie nur immer an die falschen Männer?
Mit Thomas hatte sie, nachdem sie nach all den Jahren wieder zusammengekommen waren, nur auf Wolke sieben geschwebt. Kein Wunder auch, die Zusammentreffen waren viel zu kurz gewesen, um sie mit Alltäglichkeiten zu belasten.
Und Jan?
War der überhaupt alltagstauglich? Seine alte Freundin Isabella behauptete nicht. Aber das wollte Bettina nicht wahrhaben. Kein Mensch auf dieser Welt hatte auf Dauer Spaß am Herumzigeunern. Und Jan hatte es doch sogar – und das nicht nur einmal – ausgesprochen, dass er durch sie die Lust am ewigen Herumvagabundieren verloren hatte.
Alles würde sich finden, Leben ließ sich nicht planen, sondern musste, wie das Wort es schon sagte, gelebt werden. Man konnte es nicht erzwingen, nicht kontrollieren.
Bettina erinnerte sich an einen Satz, den sie irgendwann einmal irgendwo gelesen hatte:
Wir müssen lernen, das Leben geschehen zu lassen, statt es um jeden Preis kontrollieren zu wollen.
Jedes Wort daran stimmte, und deswegen würde sie nicht mehr nachdenken, weder über das Für noch das Wider, sie würde es einfach geschehen lassen.
Beschwingt eilte sie die Treppe hinauf, wollte gerade ihre Bürotür öffnen, als Toni aus seinem Zimmer geschossen kam.
»Gut, dass du wieder da bist, Bettina«, sagte er, seine Stimme klang, ganz im Gegensatz zu sonst, aufgeregt. »Es ist etwas Furchtbares geschehen.«
Also, wenn es den sonst so besonnenen Toni aus der Ruhe gebracht hatte, musste es etwas Furchtbares sein.
»Komm rein … Furchtbares hört man sich nicht gern zwischen Tür und Angel an.«
Sie zog ihn in die Besucherecke, und sie saßen noch nicht einmal, als Toni hervorpresste: »Bellert ist tot.«
Bettina konnte es nicht glauben, Richard Bellert, einer ihrer Lieferanten, war ein sportlicher, agiler Mann gewesen.
»Das glaube ich nicht«, rief sie ganz spontan aus, weil es wirklich unvorstellbar für sie war. Sie kannte Bellert solange sie zurückdenken konnte, er hatte eng mit ihrem Vater zusammengearbeitet, nach dessen Tod mit Frieder, bis der es geschafft hatte, ihn zu vergraulen, und sie selbst hatte lange gebraucht, Bellert davon zu überzeugen, seine Produkte weiter über die Fahrenbachs zu vertreiben, allerdings dann nicht mehr über das Wein-Kontor, sondern die alteingesessene Likörfabrik Fahrenbach. Das hatte geklappt, und seither arbeiteten sie gut zusammen, wenngleich es in letzter Zeit einige Lieferschwierigkeiten gegeben hatte. Aber das kam überall einmal vor.
»Es ist aber so«, sagte Toni, »Bellert hat sich erschossen.«
Entsetzt hielt sich Bettina spontan die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.
Das konnte nicht wahr sein! Das glaubte sie nicht! Doch nicht Bellert, dieser starke, integere Mann!
»Nein«, murmelte sie, »nein, Toni, das muss ein Unfall gewesen sein.«
Toni konnte ihre Erschütterung verstehen, Bellert war ein enger Geschäftspartner gewesen, mehr noch, ein väterlicher Freund für Bettina.
»Bettina, es war kein Unfall, er hat sich an seinem Schreibtisch in seiner Firma erschossen. Daran gibt es keinen Zweifel, die Polizei hat das bestätigt. Es liegt kein Fremdverschulden vor.«
Sie konnte es nicht glauben, das konnte nicht wahr sein.
»Aber warum?«, fragte sie voller Nichtbegreifen. »Er war in den besten Jahren, Chef einer Firma, die mehr als zehn sehr gängige Spirituosen produzierte. Er führte das Unternehmen in der dritten Generation.«
»Er … er war pleite und konnte das nicht verkraften … Er konnte nicht damit umgehen, dass er sein Unternehmen gegen die Wand gefahren hat.«
Toni musste da etwas durcheinanderbringen, das konnte ja überhaupt nicht sein.
»Toni, das ist Quatsch, erinnere dich bloß an die letzte Abrechnung, die wir gemacht haben, und wir vertreiben seine Produkte nur in Deutschland. Die Zahlen der anderen Vertriebsländer werden nicht anders aussehen. Er hat gute Produkte.«
»Alles richtig, was du sagst. Aber er ist von seiner Bank falsch beraten worden, er hat praktisch sein ganzes Vermögen verloren. Die Finanzkrise hat ihn voll erwischt. Die Bank, die ihn um sein Geld gebracht hat, hat ihm danach jegliche Kredite verweigert. Aber das ist ja so typisch, wie man weiß. Bei Sonnenschein bieten sie dir die Regenschirme an … Er hat versucht zu retten was zu retten ist. Aber da war nichts mehr zu holen, die amerikanische Investmentbank, die da die goldenen Kälber versprochen hat, ist selbst pleite, da ist nichts mehr zu holen. Er hat halt nicht nur sein Privatvermögen investiert, sondern auch das Firmenvermögen.«
»Ich verstehe das nicht, Bellert ist …, äh …, war so ein besonnener Mann, ein ernsthafter Kaufmann.«
»Er hat seiner Bank vertraut wie so viele andere Menschen auch, die Pleite der Banken geht doch durch alle Bevölkerungsschichten. Arme Rentner sind um ihre Notgroschen ebenso gebracht worden wie Millionäre, Unternehmer um ihr Vermögen.«
»Warum hat Bellert das gemacht? Er ist doch nicht einer dieser …« Sie erinnerte sich, dass er tot war, dass man nicht mehr in der Gegenwartsform von ihm sprechen konnte. »Er war«, korrigierte Bettina sich »nicht einer dieser geld- und profitgeilen Hasardeure.«
»Nein, aber kein Mensch dieser Welt lehnt mehr Geld ab, schon gar nicht, wenn es von einem seriösen Bankinstitut angeboten wird. Bei Bellert kam hinzu, dass er vergrößern wollte, da kommt einem so ein Angebot erst recht entgegen.«
Bettina war zu erschüttert, um gleich etwas sagen zu können. Aber es stimmte schon. Auch sie hatte die verlockendsten Angebote ihrer Bank bekommen, denen sie auch mit viel Bargeldbesitz widerstanden hätte. Sie war zwar vermögend, eigentlich konnte man sagen reich, aber ihr Vermögen bestand in erster Linie aus Grundbesitz und davon würde sie niemals etwas veräußern.
Sie würde, so wie die Generationen vor ihr, alles für die nachfolgenden Generationen erhalten. Außerdem hatte ihr Vater spekulative Geschäfte immer abgelehnt und sehr gut nach dem Motto, das auch ihres war, gelebt – besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.
Und Bellert war doch auch aus diesem Holz geschnitzt gewesen. Aber er war halt schwach geworden, doch sich deswegen zu erschießen?
»Und seine Firma? Ich mein, dort werden immerhin zehn Produkte hergestellt.«
Toni winkte ab.
»Es hat sich kein Käufer gefunden, die Firma wird zerschlagen, der Konkursverwalter hat alles in der Hand, vermutlich werden wir auch von ihm in den nächsten Tagen hören.«
»Toni, woher weißt du das alles?«
»Von Bellerts rechter Hand, Frau Schimmer, sie hat mich angerufen. Du kannst dir vorstellen, wie fertig die ist. Ein solches Ende dieser seriösen Firma hätte sie sich auch nicht träumen lassen. Aber da sieht man mal wieder, wie vergänglich alles ist …«
»Wann ist die Beerdigung?«, wollte Bettina wissen, denn natürlich würde sie hinfahren und ihm die letzte Ehre erweisen.
»Es wird keine Beerdigung geben, er hat verfügt, dass er verbrannt wird, seine Asche soll anonym in einem dieser Friedwälder oder wie das heißt, verstreut werden.«
Es würde nichts bleiben von Bellert, dachte Bettina traurig, weder von ihm noch von seiner Firma, auf die er so stolz gewesen war, und irgendwann würde sich nicht einmal jemand an ihn erinnern.
Sie merkte, wie ihr die Tränen über das Gesicht rollten aber sie gebot ihnen keinen Einhalt. Sie war wirklich traurig, mehr als traurig, aber warum hatte er sich bloß erschossen? Es ging immer weiter im Leben, nach den Tiefen kamen Höhen, solche Zyklen durchlebte