Herr Meding deutete durch ein leises Achselzucken an, daß es ihm unmöglich sei, die gestellte Frage zu beantworten.
»Acht Jahre, sieben Monate, drei Wochen und vier Tage!« rief der General mit lauter Stimme und in tiefer Entrüstung.
Der Regierungsrath Meding konnte ein helles Lachen nicht unterdrücken und rief:
»Da haben Eure Excellenz allerdings das Möglichste geleistet und Ihre Geduld hat die Probe bestanden!«
»Ich habe ein Buch,« sagte der General finster mit einem halb humoristischen halb wirklichen Grimm, »in welches ich jeden Tag — schon seit der Zeit, da ich bei dem höchstseligen Herrn den Vortrag hatte — die Zeit eintrage, die ich im Wartezimmer zubringe. — Macht bis jetzt acht Jahre, sieben Monate, drei Wochen und vier Tage. — Was sagen Sie dazu? Man sagt,« fuhr er fort, »ich sei achtundsechzig Jahre alt — es ist nicht wahr; gelebt habe ich nur neunundfünfzig Jahre, fünf Monate, eine Woche und drei Tage. — Den Rest habe ich gewartet!«
Und der General warf sich mit resignirter Miene in seinen Fauteuil zurück.
»Ich muß sagen, Excellenz,« erwiederte Herr Meding, »daß ich noch nicht an eine solche Rechnung gedacht habe, um die Jahre zu konstatiren, die so successive in den unfruchtbaren Abgrund der Antichambre fallen — ich möchte auch vorziehen, darüber lieber im Ungewissen zu bleiben und die dunkeln Augenblicke, die man in dieser Salle des pas perdus zubringt, in den Lethe zu versenken.«
»Sie sind noch jung und geneigt, die Zeit zu vergeuden,« erwiederte der General, »aber ich —«
»Eurer Excellenz Zeit ist freilich auch weit kostbarer, als die meinige,« sagte der Regierungsrath verbindlich.
Eine helle Glocke ertönte in diesem Augenblick.
Wenige Minuten darauf erschien der Kammerdiener und rief: »Mr. Meding.«
Der Regierungsrath verneigte sich gegen den General und trat in die königlichen Appartements. — Er durchschritt das Vorzimmer, dessen Thüren nach dem Kabinet des Königs weit geöffnet waren.
In diesem Kabinet, dessen Fenster nach dem Garten offen standen und das mit blühenden Gewächsen aller Art gefüllt war, saß der König an einem viereckigen Schreibtisch.
Georg V. war damals sechsundvierzig Jahre alt, — ein schöner Mann von blühender Gesundheit. Die scharfgeschnittenen, klassisch geformten Züge seiner Rasse, welche sein Gesicht in den reinsten Linien zeigte, strahlten von Heiterkeit und Wohlwollen, ohne dem königlichen Stolz Abbruch zu thun, der ihn erfüllte. Ein leicht aufwärts gedrehter blonder Schnurrbart bedeckte die Oberlippe, und schwerlich hätte Jemand beim ersten Anblick dieses sich in so freiem und leichtem Mienenspiel bewegenden Gesichts geahnt, daß dem Könige das Augenlicht fehle.
Der König trug die Uniform des hannöverischen Gardejägerregiments, bequem aufgeknöpft. Ueber seine Brust lief unter der Uniform das große dunkelblaue Band des Ordens vom Hosenbande. Auf der Brust trug er die kleinen Kreuze des Guelfen- und Ernst-August-Ordens.
Neben dem Könige stand an der Seite des Tisches der Geheime Kabinetsrath Dr. Lex, ein kleiner, trockener Mann mit ergrauendem vollem Haar, scharfen, intelligenten Zügen und bescheidener, fast schüchterner Haltung, im Begriff, seine Papiere zu ordnen.
Ein kleiner schwarzer King Charles lag zu den Füßen des Königs.
»Guten Morgen, mein lieber Regierungsrath!« rief der König mit seiner hellen reinen Stimme dem Eintretenden zu, — »ich freue mich, Sie zu sehen. Setzen Sie sich und sagen Sie mir, was gibt es Neues — was sagt die öffentliche Meinung in meinem Königreiche?«
»Unterthänigst guten Morgen, Eure Majestät!« erwiederte Herr Meding mit tiefer Verbeugung, indem er auf einem Sessel dem Könige gegenüber Platz nahm.
Der Geheime Kabinetsrath hatte seine Papiere geordnet und entfernte sich langsam.
»Die öffentliche Meinung,« fuhr der Regierungsrath fort, »ist, wie ich Eurer Majestät mittheilen muß, sehr aufgeregt und macht einen gewaltigen Anlauf, um den Krieg zu beschleunigen und Eure Majestät insbesondere zum Anschluß an Oesterreich und zum entschiedenen Auftreten gegen Preußen zu bringen.«
»Warum denn das?« fragte der König, — »die liebenswürdigen Blätter der Opposition sehnten sich ja sonst so sehr nach der preußischen Spitze!«
»Warum? Majestät,« erwiederte der Regierungsrath,— »das möchte schwer zu konstatiren sein, — es werden da wohl viele und verschiedene Einflüsse mitwirken, — aber die Thatsache steht fest — die ganze öffentliche Meinung im Königreiche Hannover will den Anschluß an Oesterreich.«
»Sonderbar,« sagte Georg V., »aus demselben Tone sprach mir der Graf Decken, der gestern bei mir war — er war ganz furios österreichisch.«
»Graf Decken, Majestät,« erwiederte Herr Meding, »spricht aus der Seele des großdeutschen Vereins, den er gestiftet — und ist ein großer Verehrer des Herrn von Beust.«
»Ich weiß, ich weiß!« rief der König, — »er hat aber also doch Recht damit, daß alle Welt den Krieg gegen Preußen predigt, und die Armee am meisten, d. h. die jüngeren Offiziere?«
»Er hat Recht, Majestät,« erwiederte der Regierungsrath.
Der König dachte einen Augenblick nach.
»Und was thun Sie dieser Strömung gegenüber?« fragte er dann.
»Ich suche zu kalmiren, abzuleiten und aufzuklären, soweit mein Einfluß in der Presse reicht, denn ich halte diese Strömung für unheilvoll, — sie trägt dazu bei, den Krieg, das größte Unheil für Deutschland, herbeizuführen und in diesem Kriege Hannover in eine höchst gefährliche Position zu drängen.«
»Ganz recht, ganz recht!« rief der König lebhaft, — »es muß Alles geschehen, um diese kriegerische und antipreußische Aufregung zu beruhigen. Sie wissen, wie sehr ich von der Ueberzeugung durchdrungen bin, daß das gute Einvernehmen der beiden ersten Mächte des deutschen Bundes die einzig sichere Grundlage für die Wohlfahrt Deutschlands ist und wie viel mir stets daran gelegen hat, dieß zu erhalten. — Sie wissen auch, welchen Werth ich auf die preußische Allianz lege. Man nennt mich,« fuhr der König fort, — »einen Feind Preußens — ich bin es wahrlich nicht, — ich vertheidige die Rechte meiner vollen Selbstständigkeit und Souveränetät, aber Niemand kann mehr durchdrungen sein, als ich, von dem Wunsche, mit Preußen in Frieden und Einigkeit zu leben. Diejenigen, die diesen Frieden stören wollen, verkennen die Interessen beider Staaten. Man spricht in Berlin von der Politik Friedrichs des Großen — wie wenig versteht man seine Politik! Wie hohen Werth legte Friedrich II. auf die Allianz Hannovers, so hohen Werth, daß er seinen besten Feldherrn, den Herzog von Braunschweig, an Hannover abtrat! Und welche großen und segensreichen Folgen hatte nicht jene Allianz, obwohl sie gegen Oesterreich gerichtet war! O daß es möglich wäre, die beiden deutschen Mächte in inniger und freundlicher Verbindung zu erhalten, und daß es mir vergönnt wäre, der Punkt auf dem i dieser Verbindung zu sein! Sollte aber der Bruch — was Gott verhüte — erfolgen, so will ich mich an einem so traurigen Kriege weder auf der einen noch auf der andern Seite betheiligen.«
Der König hatte dieß Alles mit jener Bestimmtheit und Deutlichkeit gesprochen, mit der er es liebte, seinen Vertrauten gegenüber seine Auffassung einzelner Fragen und Materien ausführlich zu entwickeln, damit dieselben stets im Stande wären, seinen Ansichten und seinem Willen gemäß zu handeln.
»Sie thun also sehr recht,« fuhr er fort, »wenn Sie nach allen Kräften der kriegerischen und antipreußischen Propaganda entgegenarbeiten.« —
»Ich bin hocherfreut,« erwiederte der Regierungsrath Meding, »Eurer Majestät Intentionen hierin so vollständig entsprochen zu haben, um so mehr, als meine Lage als geborner Preuße gerade in dieser Krisis eine höchst peinliche ist.