Der Ozean ist in Österreich unsichtbar, aber man könnte wenigstens acht Millionen Kopien des Ölgemäldes von Costa Pinheiro aus dem Jahr 1976 bestellen, das Pessoa aus dem Fenster hinaus auf den Atlantik schauend und denkend und dichtend zeigt. Und wie gesagt: Die Weltausstellung ist für alle da! Der Mensch und das Meer!
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch anfügen, daß es noch einen zweiten Dichter gibt, der so wie ich, E.G. heißt, im übrigen aber schon gar nichts mit mir gemein hat und auch nach wie vor – wenn auch völlig zurückgezogen – in Österreich lebt. Dort schreibt er gerade in den letzten Jahren hauptsächlich harmlose, halbspaßige Satirchen – einmal hat er auch mich auf die Schaufel genommen, das war aber beim besten Willen kein besonders gelungener Text! Er drückt sich seit langem vor jeder konkreten politischen Stellungnahme, meidet jedwede Auseinandersetzung und hat weder den Mut noch die Lust, sich Feinde zu machen. Er dürfte eine gewaltige Demütigungsakzeptanz besitzen. Die Worte Geisterbahn und Höllentor sind in seinem Oeuvre nicht enthalten, ebensowenig eine Anhäufung drastischer Adjektiva in Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Gegebenheiten. Jedenfalls läuft er kaum Gefahr, daß ihn irgendein Politiker irgendeiner Couleur in einem Anfall von Populismus jemals dazu auffordert, das Land zu verlassen. Ich halte diesen mit mir weder verwandten noch verschwägerten E. G. offen gesagt für einen eher feigen und duckmäuserischen Charakter, der im literarischen Leben eigentlich nichts verloren hat. Vermutlich drückt er sich eben jetzt auch mit einer seiner üblichen Ausreden, Schnupfen, Schleimhautschwellung, Bindehautentzündung oder grippalem Infekt, Ihre Anfrage zu beantworten. Nie hat E.G. gewagt, den Schritt zu tun, den ich getan habe – und übrigens hat er auch kein Buch über Fernando Pessoa geschrieben. Ich würde mir wünschen, daß man mich weniger oft mit ihm verwechselt.
Damit grüßt Sie aus dem Martinho des Arcadas herzlich E. G.
Lissabon, im März 1998
Neues von der Vierschanzentournee
Der 6. Jänner war ein eiskalter, trüber, grauer, kurzer Tag, der aus einer elendslangen Frostnacht herausgekommen war und in eine elendslange Frostnacht hineinging. Monate der trostlosen Winterfinsternis waren ihm vorausgegangen, Monate der trostlosen Winterfinsternis sollten ihm nachfolgen. Inmitten der tiefgefrorenen, klinisch toten Natur fand wie an jedem frühen Nachmittag jedes 6. Jänner wie jedes Jahr das Abschlußspringen im Rahmen der sogenannten Vierschanzentournee statt. Oben, an der Quelle der Bischofshofner Naturschanze, kauerten die Schispringer, zitterten vor Kälte, klopften erfolglos in ihre Thermohandschuhe und warteten ziemlich mißmutig, bis sie mit ihrem Sprung an die Reihe kamen. Unten, hinter der Umzäunung des Auslaufs, kauerten Tausende von Zusehern, zitterten trotz Anoraks, Schals und Pelzstiefeln, qualmten die körpereigene Atemluft ins froststarre Freie hinaus, schütteten aussichtslos Unmengen Glühmosts, Glühweins und Glührums in sich und warteten auf die einmal etwas kürzeren, einmal etwas weiteren, im Grunde aber immer gleichen und immer gleich öden Sprünge der Athleten. Es blieb der vom Klima geknechteten und ihrem rauhen Schluchtenschicksal hoffnungslos ausgelieferten Masse auch gar nichts anderes übrig, als sich solch deprimierenden Belustigungen hinzugeben. Wer setzt sich schon freiwillig dem Trachtenheiligendreikönigsterror aus. Ein Heiligerdreikönig ist aufdringlicher als der andere, und jeder einzelne erinnert uns jedes Jahr an nichts anderes als an unsere furchtbare Eingewintertheit. Wir Alpensklaven und Schluchtenopfer hassen den Riesenslalom der Damen insgeheim zeitlebens, aber der Riesenslalom der Damen muß einerseits gefahren, andererseits mitverfolgt werden, wir hassen den Schimarathonlanglauf der Herren, aber der Marathonlanglauf der Herren muß heruntergespult werden, wir hassen die Biathlonmanager und die Pistenbauer und die Loipenexperten und die zottelbärtigen Wachselwissenschaftler, aber ihren Erkenntnissen muß Folge geleistet werden. Wir hassen die Vierschanzentournee, aber die Vierschanzentournee muß absolviert und mitverfolgt werden. Es ekelt uns aus tiefstem Herzen davor, aus der großen Dunkelheit nach Hause gekommen, noch vor dem Kachelofen die Verlierer zu verspotten, es ekelt uns davor, im trüben Schimmer der Stubenlampe die Siegerlisten auswendig zu lernen, aber die Verlierer müssen verspottet, die Siegerlisten müssen auswendig gelernt werden. Das ganze Jahr über fürchten wir uns mit zunehmender Beklemmung vor dem Herannahen der Vierschanzentournee, und kaum haben wir Vierschanzentourneehasser uns durch das Vierschanzentourneenadelöhr gezwängt und die Vierschanzentournee mit Ach und Krach und nie ohne Gemütsnarbe überstanden, müssen wir auch schon wieder damit anfangen, uns vor der nächsten zu fürchten. Wir müssen die Vierschanzentournee zeitlebens schwersten Herzens auf uns nehmen, der Vierschanzentournee kann nicht ausgewichen werden.
Allerdings wußten die gramgebeugten Bischofshofnerinnen und Bischofshofner nur zu gut, daß die ganze Alpenwelt ihre Augen auf Bischofshofen gerichtet hat, also verbargen sie hinter der Absperrung des Auslaufs zu Tausenden ihren Ekel und ihren Gemütsfrost und taten allen Ernstes so, als interessierten sie sich brennend für die Entscheidung über den Vierschanzentourneegesamtsieg, die an diesem 6. Jänner in Bischofshofen zwischen dem japanischen Schispringer Kazuyoshi Funaki, dem »Frosch von Nagasaki« und dem Lokalmatador Raimund Obererlacher (»Supermundl«) fallen mußte, dessen legendärer Ausspruch »Ich springe für das Land, ich springe für die Menschen, ich springe für die Nation, ich springe zum Wohle Österreichs« längst in die Sportinterviewgeschichte eingegangen ist.
Funaki hatte seine Chancen sehr dezimiert: Der Mann mit dem ultragrünen Sprunganzug zerschellte an der eigenen, fatalen, japanischen Philosophie: Alles oder nichts. Nach einem zugegeben imposant weiten Flug riskierte der kühne Funaki es auch noch, mit einem Telemarkschritt zu landen – und stürzte kopfüber in den Schnee. Es ist ein Fehler der Japaner, ihre Schispringer philosophieren und ihre Philosophen schispringen zu lassen. Obererlacher philosophierte niemals, auch jetzt nicht. Vielmehr war er wild entschlossen, dem Druck des Favoriten standzuhalten, in sauberer Körperhaltung den nötigen Sicherheitssprung hinzulegen und seine Chance auf den Sieg eiskalt zu nützen, zum Wohle der Menschen, des Landes und der Nation. Obererlacher hüpfte also aerodynamisch und gewissermaßen staatsbübisch in die eisige Anlaufspur der Bischofshofner Naturschanze, beschleunigte sich, merkte sofort, daß auch sein persönlicher Wachswissenschaftler wieder einmal ganze Arbeit geleistet hatte, kam mit gutem Gefühl und Höchstgeschwindigkeit zum Schanzentisch, hob genau im richtigen Augenblick kraftvoll ab, legte sich elegant auf den Luftteppich und flog und flog und flog. Er spürte, daß er in der Luft derzeit alles richtig machte, er spürte, daß es auch diesmal wieder weit gehen und niemand ihm den Triumph streitig machen könnte. Während er so siegessicher und majestätisch durch die Bischofshofner Winterluft flog, fiel Obererlacher ganz unvermutet plötzlich der Frosch von Nagasaki ein, Kazuyoshi Funaki, der unten im Auslauf um seine letzte verschwindend kleine Chance zitterte, der arme Teufel, der um die halbe Welt in dieses düstere Nebelloch geflogen war, um sich hier inmitten der Tristesse mit ihm bei ein paar Schisprüngen zu duellieren und dann auch noch auf jämmerliche Art zu verlieren und vom brutalen Trachtengesindel angegrunzt und verspottet zu werden. Im Flug sah Obererlacher in die Schlucht hinunter und spürte mit einem Mal, daß der Menschenhaufen, der da dumpf zu ihm heraufjubelte, aus nackter Verzweiflung jubelte und in ihm bloß einen kümmerlich kleinen Trost hatte angesichts der großen Trostlosigkeit. Mit einem Mal überkam Obererlacher ein ungutes Gefühl, und er spürte, daß das fröstelnde Publikum unten in Wirklichkeit voll des Vierschanzentournee-Ekels war und die Vierschanzentournee und alles mit der Vierschanzentournee Zusammenhängende abgrundtief