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Melbourne, 26. Oktober
Saudade
Im Winter des Jahres 1993, also vor mittlerweile mehr als fünf Jahren, bin ich aus der stechend scharfen, trockenen Alpenschluchtenluft Österreichs pharmazeutisch allein gelassen und in der mich selbst betreffenden größten Hoffnungslosigkeit als schwerkranker Mann nach Portugal gereist, wo ich auf Einladung der Universität Lissabon als writer in residence eine einsemestrige Poetikvorlesung halten sollte, hier zu meiner eigenen Verblüffung aber nach Jahren des aussichtslosen Binnenlandmartyriums innerhalb weniger Monate ohne jede ärztliche oder medizinische Zutat wieder vollkommen gesundet und deswegen kurz entschlossen endgültig in Lissabon geblieben. Ich bezeichne mich als klimatischen Dissidenten, und ich muß sagen, daß ich diese meine Zufallsauswanderung bis an den heutigen Tag für das größte Glück meines Lebens halte.
Ich bewohne nur eine kleine Garçonniere, aber jeden Morgen, wenn ich die Augen öffne, sehe ich den Atlantik, und ich höre und rieche den Atlantik, noch bevor ich die Augen öffne. Es fehlt mir nichts, wenn ich durch die Baixa, die Alfama, Benfica oder den Tejo entlangflaniere, und gerne plaudere ich ein wenig mit den stolzen Portugiesinnen, die quer über die Gasse von Hauswand zu Hauswand Stricke spannen und die Unterwäsche der Gatten aufhängen. Die Unterwäsche hier ist freilich noch etwas zurückgeblieben, aber das empfindet niemand als Mangel. Es fehlt mir an nichts, wenn ich im Café Martinho das Arcadas an der Praça do Comércio sitze, wo ich mich auch jetzt befinde, um diese Auskunft niederzuschreiben. Die Winter sind kurz und unerheblich, schlimmer als Oktober wird es hier nie. In ganz Lissabon habe ich noch kein Hinweisschild auf einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt gefunden.
Ich bin nicht nur, was vor allem für einen Immigranten eine große Auszeichnung ist, ins Organisationskomitee für die nahende Weltausstellung Der Mensch und das Meer berufen worden, sondern schreibe nun schon seit Jahren auch ein Buch über den Dichter Fernando Pessoa, dessen Livro de Desassoêgo ich noch im österreichischen Eis entdeckt habe, und das mir einerseits den portugiesischen Decadentismo, andererseits das Festival der Nerven, in dem Pessoa existiert hat, nahegebracht hat. Dazu ist zu bemerken, daß derzeit alle bedeutenden europäischen Dichter von Reykjavik bis La Valetta in Portugal sind und Bücher über Fernando Pessoa schreiben. Einer untersucht Pessoas Heteronyme, einer den Futuristen, einer seine komplizierte politische Gesinnung, einer seine vertrackte Liebesaffaire, einer seine Leberzirrhose. Einer vergleicht ihn mit Italo Svevo, einer mit Rilke, einer mit Kafka, einer mit Robert Walser, einer mit Giuseppe Ungaretti, einer sogar mit Ingeborg Bachmann, die Ungaretti übersetzt hat. Pessoa trägt viele Masken. Wieder einer untersucht den generellen Pessoaschen Zustand, das portugiesische Bewußtsein der Niederlage, die Enttäuschung über die Geschichte, ich möchte sagen: Die Erotik des Niedergangs. In Portugal ist man von der Traumhaftigkeit des Tatsächlichen überzeugt. Traumhaft bedeutet allerdings bloß traumartig. Doch das Bewußtsein der Niederlage, das Wissen um die Vergeblichkeit allen Tuns wird zum Stolz auf die alles durchdringende Traurigkeit gesteigert, für den es hier einen eigenen, ganz unübersetzbaren Namen gibt: Saudade, jenes Wort, das in fast jeder Unterhaltung mit einem Portugiesen fällt und noch weit mehr meint als Stolz auf die Schwermut und Lust am Leiden. Ich trage das Bewußtsein der Niederlage wie ein Siegespanier mit mir herum, heißt es im Livro de Desassoêgo.
Bei Pessoa steigert sich der Überdruß aber noch zum Ekel über den nicht mehr zurückzunehmenden Akt der Schöpfung. Daher die große Müdigkeit im portugiesischen Volk, die große Passivität, daher mehr Klage als Anklage. Der eine, der diese Untersuchungen macht, bin ich. Abends treffen wir europäische Künstler und Bohemiens uns im Brasileira do Chiado, essen Arroz de tamboril und Papos de anjos de Mirandela, trinken Rotwein in memoriam und besprechen den Fortgang unserer Pessoaprojekte. Im Lauf der Zeit sind wir einer wie der andere Männer des Südens geworden, auch wenn wir – Antonio Tabucchi und der Malteser einmal ausgenommen – nicht an der Küste des Ozeans zur Welt gekommen sind. Und wer hier ein Buch über Pessoa schreibt, dem schlägt die Verehrung aus dem Volk entgegen, die in Italien die Fußballer bekommen und in Spanien die Toreros; wer hier ein Buch über Pessoa schreibt, dem steht jede portugiesische Türe offen, der braucht keine Sorge zu haben um sein Wohlergehen. Ob all die Tonnen von Pessoabüchern tatsächlich auch einmal verlegt und publiziert werden, ist dabei gänzlich einerlei: Die Portugiesen wissen schließlich, wie das seinerzeit bei Pessoa persönlich gewesen ist.
Mit Österreich habe ich so gut wie nichts mehr zu tun, außer wenn ich eine Zeitungsnotiz lese, daß ein berühmter pseudoengagierter Schnulzensänger aus Kärnten seinen Weihnachtsurlaub in seiner Villa in Lagos verbringt oder wenn die österreichische Fußballnationalmannschaft in Lissabon antritt und ich gramgebeugt mitansehen muß, wie der portugiesische Libero mit dem wunderschönen Namen Oceano einen Elfmeter verschießt. So schlimm kann das Bewußtsein der Niederlage aber gar nicht sein, daß die Portugiesen gegen die Österreicher am Ende nicht doch noch gewinnen würden. Es kommt kaum Post, und ich habe nicht den Eindruck, daß ich in Österreich irgendjemandem besonders abgehe.
Soweit ich mich erinnere – und damit ich jetzt endlich Ihre Anfrage beantworte – waren zur Zeit meiner Ausreise in Österreich teils kurzsichtige und völlig ratlose, teils verschlagene, verlogene, ideologieheuchelnde, durch und durch zynische und impertinente, teils bornierte, arrogante und ignorante, teils korrupte und brutale, in jedem Fall aber völlig hohle und lächerliche politische Gestalten an der Macht (ihre Namen habe ich samt und sonders vergessen), die sich mit den ekelhaftesten Phrasen ungeniert über die ekelhaftesten Gemeinheiten hinwegschwangen, die das Land in der kürzesten Zeit verkommen und verwahrlosen und verwildern ließen und die Bevölkerung, die sie regierten, wenn sie sie nicht ignorierten, tagein, tagaus zum Narren hielten und zum Narren machten. Die Gewalt, die lange strukturell war, ist allmählich wieder manuell und maschinell geworden; politische Gestalten, die Debakel unbeirrt auf Debakel häuften und überhaupt kein anderes Interesse mehr hatten, als einerseits ihre Macht und ihren Einfluß, ihre Pfründe und Privilegien zu erhalten oder noch zu vermehren und andererseits zu verhindern, daß der altmodische, ihre üblen Machenschaften aufdeckende, im übrigen aber freilich genauso brutale, verlogene und völlig hohle, nur weniger lächerliche Großoppositionär an die Macht kommt.
Nun haben sich aber, wie mir erzählt worden ist, diese hinterfotzigen Machthaber nicht nur von ihrem hinterfotzigen Widersacher vor sich hertreiben, sondern vom Bumerang der Omnipräsenz auch noch erschlagen lassen. Sie sind blindlings in die hinterfotzige Fernsehfalle getappt und unaufhörlich durch den Fleischwolf der Medien gedreht worden, die die gnadenlos fressen, die sie füttern, die jede Torheit aufpumpen, jede Peinlichkeit aufblähen, aus jedem noch so unerheblichen Mißgeschick eine Katastrophe quetschen und dann ihre Einschaltquoten bejubeln; die nur mit Gemeinheit und Bösartigkeit und Fürchterlichkeit und Empörungsangeboten gute Geschäfte machen und die kleinen und großen Fürchterlichkeiten über Jahr und Tag in einer hysterischen Weise zu einem gigantischen Gesamtfürchterlichkeitsspektakel zusammenzimmern, in dem nur Monster, Ungeheuer, Bankrotteure und Menschenfresser eine Rolle zugewiesen bekommen.
Diese Pornographie des Niedergangs dürfte denn auch – soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann – der ausschlaggebende Grund gewesen sein, daß die einstigen Machthaber, wie ich nun höre, gestürzt worden sind, ihr gespenstischer Konkurrent aus dem übelsten Abschaum heraus an die Macht gekommen ist und seine gespenstischen Ministranten und brutalen Handlanger an die Schalthebel des Landes gesetzt hat. Es ist nicht zu erwarten, daß die neuen Machthaber weniger unmenschliche Gedanken denken und weniger unmenschliche Verordnungen und Gesetze erlassen werden wie ihre Vorgänger. Es ist nicht zu erwarten, daß die neuen Machthaber weniger hemmungslos darauf achten werden, zuallererst Pfründe und Privilegien zusammenzuraffen. Mein Großvater hat gesagt: Der Trog bleibt immer derselbe, nur die Schweine werden ausgewechselt. Der neue Machthaber wird eine tote Ideologie tranchieren, wie seine Vorgänger eine tote