Melbourne
Vierundzwanzig Stunden sind nun seit unserer Ankunft in Melbourne vergangen, von diesen vierundzwanzig muß man zwölf für Schlaf und Ausnüchterung abziehen, und wenn ich als Neuankömmling bei meinem Hotelzimmerfenster auf Melbourne hinausschaue, könnte Melbourne genausogut New York sein, Montevideo, Hamburg, Montreal, Houston, Los Angeles, Barcelona, Tokyo, Marseille oder was weiß ich, und ich kann Dir also noch nichts spezifisch Melbourne oder Australien Betreffendes schreiben. Morgen geht’s dann ja los mit Tasmanien, Queensland, den Blue Mountains, dem Ayers Rock, der Gibson-Wüste und den Aborigines, und wir haben einen ganzen Monat zur Erkundung Zeit.
Aber eines kann ich Dir jetzt schon sagen: Die Welt ist klein, auch hier in Melbourne! Wie wir das Gepäck aufs Zimmer gebracht haben und wieder aus dem Hilton kommen, um uns nach dem endlosen Flug ein wenig die Beine zu vertreten, um vielleicht einen ersten Eindruck von der Stadt und ihrer Atmosphäre zu gewinnen, fällt uns schräg gegenüber, keine zwanzig Meter entfernt, als erstes die Neonaufschrift Pepi’s Inn. Austrian Kitchen ins Auge, und da müssen Emmy und ich natürlich sofort hinein, die Beine können später auch noch vertreten werden. Stell Dir vor, drinnen sieht es haargenau so aus wie im Musikantenstadl, nur ohne Fernsehkameras, dafür haben wir bis zum Indischen Ozean müssen, das Urviech samt Filzhut und Krachlederhose steht ausgestopft in der Ecke, wenn man eine Münze hineinwirft, jodelt es 30 Sekunden lang und nuschelt zum Abschluß Gschamster Diener. So etwas haben wir so bei uns noch nicht gesehen. Tatsächlich hat der Musikantenstadl bereits in Melbourne stattgefunden, wir haben am Flughafen ein Plakat gesehen, und dank des Musikantenstadls sind den Australiern österreichische Kultur und Geistesleben nichts Fremdes, vor allem die Zöpfe sind ein Faszinosum und eine ethnologische Sensation; Wittgenstein weniger, das Marketing der Sprachstörungsphilosophen läßt zu wünschen übrig, trotz allem kommen nämlich beim Reden die Leute zusammen, da wäre eine Wittgensteineria unwirtschaftlich, und Wittgenstein war genaugenommen auch eher irischer Norweger.
Das Fernsehen darf nicht unterschätzt werden, das herrschende Fernsehprogramm ist nun einmal Ergebnis der tagtäglichen direkten Demokratie: Das Volk wählt mittlerweile mittels Fernbedienung. Manchmal tagträume ich schon, wie Du weißt, daß der Musikantenstadl wegen inferiorer Einschaltquoten und miserabler Seherbewertung zunächst ins Schichtarbeiterprogramm zwischen Schulfunk und Belangsendungen der Katholischen Arbeiterjugend verbannt und dann überhaupt abgesetzt wird, dagegen die einfühlsamen Schriftstellerportraits über Barbara Frischmuth und Julian Schutting Gassenfeger sind; zwischen den Nachrichten und dem Wetter statt der Werbung immer eine kleine Lyrik von Friederike Mayröcker; immer wieder werden die entscheidenden Augenblicke eines Spaziergangs von Christoph Ransmayr durch menschenleere Hügellandschaft in Zeitlupe eingespielt, auf Ransmayrs Lederjacke klebt dezent das Logo von Bank Austria oder Shell (go well!), denn das heißt garantiert, daß er was wert ist, und eine Nation sitzt atemlos vor dem Bildschirm, wenn Peter Handke samt Wollmütze in seinem Gärtchen im Spätherbst einen Ast vom Baum sägt und gleichzeitig phlegmatisch seine Herzklappensituation kommentiert, aber dann denke ich mir au contraire, ach was, ich will ja nicht eines Tages den Titel Unglücklichmacher des Volkes verliehen bekommen. Wer die Demokratie liebt, darf sich nicht in einem fort über den Musikantenstadlmehrheitsbeschluß mokieren.
Wir machen es uns zwischen australischen Plastikdachschindeln und Kunststoffstroh gemütlich, und schon die ersten unerheblichen Brocken deutschsprachigen Gefasels, die wir in Melbourne aus uns lassen, bewegen den Besitzer, mit ausgebreiteten Armen auf uns zuzustürmen: woher wir kommen, ob wir Österreicher sind und welcher District, Österreicher! Österreicher!, das ist ja hervorragend, das ist ja herrlich, das ist aber eine Überraschung, schon stürmt er in unveränderter Armhaltung auf die Bühne zum Mikrophon: Wir haben die Freude, zwei Originalösterreicher begrüßen zu dürfen, herzlich willkommen am Außenrist des Planeten, ein Tusch, ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit. Es gibt auch eine Bühne, da wird von Fall zu Fall schuhgeplattelt und kranzelgestochen und stiergewaschen, und dann und wann spielen irgendwelche importierten fidelen Zentralalpentaler auf, Mei Hamat is a Schatzale, dazu schunkeln tonnenweise Griechen und Japaner, Mir sama Landsleut, Linzerische Buaman, Und wer im Jänner geboren ist, Steh auf, Steh auf, Steh auf. Er nehm sein Gläschen in die Hand und sauf es aus bis an den Rand, Sauf aus, Sauf aus, Sauf aus. Ein angesoffener Japaner ist etwas Herziges, kann ich Euch sagen, ein richtiger Zivilkamikaze, Retete, retete, morgen hama Schädelweh, retete, retete, Schädelweh is scheh: Ja, Melbourne besteht hauptsächlich aus Griechen und Japanern, und überhaupt: das Ausländerproblem! Auf Dauer halten die Japaner natürlich die dubiosen japanischen Restaurants und ihren Schlangenfraß nicht aus, auch sie wollen größer und stärker werden, und was liegt da näher als die urige Gailtaler Brettljause mit dem Bauchspeck, dem Rohschinken, dem Hartwürstl, dem Essiggurkerl, der Krenwurzen, dem Liptauer, dem Glundner und dem Obstler! Jetzt sind sie schon sehr groß und sehr stark. Das Wienerschnitzel- und Tafelspitzcenter hat er in Sydney, hier das kulinarische Festival der Regionen, wir können auch Käsnudel haben, wenn wir wollen. In Sydney gehen die Wiener Schnitzel wie die in den warmen Semmeln nach der Entführung aus dem Serail. Sydney ist New Vienna und New Wienerneustadt, Melbourne New Hermagor und New Kötschach-Mauthen. Gulasch hat sich nicht so richtig durchgesetzt, zu chinesisch von der Zubereitung her. Die Knödelstube war für Canberra vorgesehen, aber Canberra ist öd, wie Bonn, Bern, Brasilia, St. Pölten. Die Auferstehung St. Pöltens ist also noch nicht um den Ozean gekommen. Sonst kann er nicht klagen, die aus dem Land des Lächelns kommen, zahlen profunde Trinkgelder, wenn sie nur nicht ständig so piepsen und so schnattern würden.
Allein unserer Nationalität haben wir spontan zwei Literkrüge Schleppebier auf Hausrechnung zu verdanken, ein wenig abgestanden vielleicht, aber wenn man die Distanz bedenkt …
Er ist Wiener, erzählt er uns und sitzt längst an unserem Tisch, 18. Bezirk, Kalvarienberggasse und vor zwanzig Jahren hergekommen als ein Niemand, zur Zeit des Todes von Präsident Jonas. Eine Mischung aus Frauengeschichte und Steuersache, naja, egal, er ist der Pepi Haubenwallner, für uns der Pepi, Nachnamen sind hier Schall und Rauch, und ob wir apropos eine Memphis Classic hätten, die gibt’s hier nicht. Eine Zeitlang hat er sich regelmäßig österreichische Zeitungen herüberschicken lassen, jetzt nur noch selten, bis die da ankommen, sind es ja Witzblätter. Österreich als Staatsganzes ist ihm wurscht, erst seit der Pepi das hier sagen kann, sagt er, fühlt er sich als richtiger Österreicher. Nachdenken darf er freilich nicht, sagt er, zurückerinnern darf er sich nicht an die Zustände seinerzeit. Hochkommen hat man als einzelner nicht können in Österreich, sein eigener Herr hat man nicht sein dürfen, eigener Herr war immer ein Nachteil in diesem Untertanenparadies. In Österreich hat man ein Niemand bleiben müssen, damit es einem gut geht, Melbourne wäre in Österreich nicht möglich gewesen. In Österreich ist immer nur die Unfruchtbarkeit unterstützt und gefördert worden, wer sich auf seine eigenen Beine gestellt hat, dem sind sie weggeschnitten worden – von Amts wegen. Der unternehmerische Charakter ist in Österreich unerwünscht, der selbständige Mensch wird von Staats wegen benachteiligt und für seinen Einsatz bestraft, wo es nur geht. Selbständigkeit ist dort immer eine Krankheit gewesen, nur daß es keine Krankenkasse dafür gibt. Das Wort herrenlos wird in Österreich immer mit dem Wort Hund in Zusammenhang