Abgetaucht. Constanze Dennig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Constanze Dennig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902998132
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als ich es geschafft habe, ein Potemkinsches Dorf der Ordnung herzustellen, läutet es. Ich drücke den Türöffner. Michael hat keinen Schlüssel zu meiner Wohnung, da ich auf meinem eigenen Reich bestehe. Es könnte ja sein, dass ich wirklich mit ihm Schluss mache und dann das Schloss austauschen müsste. Nur Mutter hat einen Schlüssel, zum Blumengießen und auch deshalb, weil ich mich nicht traue, ihn ihr wegzunehmen.

      Ich öffne die Tür, er nimmt mich in seine Arme und anstatt mit ihm zu schimpfen, beginne ich zu schluchzen. Warum? Die innere Spannung lässt nach und ich bin geborgen. Mit jeder Träne verlässt der Schmutz der Welt meine Seele. Ich glaube, dass mich die Fähigkeit zu weinen bisher davor bewahrt hat, so wie viele meiner Kollegen kalt und hart zu werden. Denn es ist ein schmutziges Geschäft, in dem ich arbeite. Das Wühlen in den Abgründen der menschlichen Seele macht einen selber auch schmutzig. Nur, dass Händewaschen nichts hilft.

      Einen Aperolspritzer bekomme ich nicht – kein Aperol zu Hause –, aber ein Glas Veltliner und einen liebevollen Mann, der mir gelassen zuhört, während ich ihm von Leichen, Hypochondern und einer schönen Selbstmörderin, die sich vielleicht gar nicht selber ermordet hat, erzähle.

      »Wieso bezweifelst du eigentlich die Selbstmordtheorie?«

      »Bauchgefühl.«

      »Hm, das ist nicht wirklich überzeugend.«

      »Empirie, Erfahrung.«

      »Auch nicht.«

      »Ich mag die Mutter, ziemlich normal.«

      »Mutter normal? Dann müsstest du dich bei deiner Mutter schon lange umgebracht haben.«

      »Ich bin Psychiater, das ist so wie lebenslanger Selbstmord.«

      »Gut, dass du kein Kriminalinspektor geworden bist.«

      »Wieso?«

      »Weil deine Verdauung einem Richter nicht als Beweis dienen würde.«

      »Ich werde es beweisen.«

      Dann noch ein Glas Veltliner, dazu ein Käsebrot, und die Welt ist wieder rosarot. Ich schlafe neben Michelangelo ein, obwohl das Bett nicht gemacht ist.

      Um fünf Uhr wache ich aus physiologischen Gründen auf, der Veltliner und das Mineralwasser fordern ihren Tribut. Es ist schon fast hell. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich muss, ich muss mich – ohne Zähneputzen – in mein Joggingoutfit werfen, den Obduktionsbericht aus meiner Handtasche ziehen und Richtung Donaukanal laufen. Am Donaukanal bleibe ich stehen und lese zuerst einmal, was da über die Fundstelle der Leiche steht: »Die mit einem zerrissenen T-Shirt und halblanger Turnhose bekleidete Leiche von Sabine Katz wurde am Ufer des Donaukanals in Höhe der Strandbar Herrmann gefunden. Die Leiche wurde offenbar angeschwemmt, wobei sich das linke Bein in einer Baumwurzel verfangen hat.«

      Da muss ich hin. Ich werde zuerst von der Augartenbrücke am linken Donaukanalufer bis zur Franzensbrücke laufen und dann über die Urania auf der anderen Seite zurück. Ich jogge den ausgetretenen Treppelweg ganz nahe am Wasser entlang, da ich annehme, dass Sabine auch diesen Weg genommen hat, falls sie nicht, wie von der Polizei angenommen, wirklich von einer der Brücken ins Wasser gesprungen ist.

      Aber das möchte ich eben nicht glauben.

      Der Wasserstand des Donaukanals ist so hoch, dass der Pfad gerade mal zehn bis zwanzig Zentimeter darüber liegt. An manchen Stellen sieht man, dass die Ufervegetation komplett mit getrocknetem Schlamm überzogen ist. Also war vor circa einer Woche der Pegel durch das Hochwasser noch höher. Auch jetzt wirkt der Kanal noch immer wie ein reißender Fluss.

      Also: Wenn ich jetzt ausrutschen und hineinfallen würde und ich keinen Baum zum Anklammern fände, dann könnte es ohne Weiteres sein, dass ich mitgerissen würde und ertränke. Ich bin in meiner Unfalltheorie bestärkt. Für mich ist es gewiss, dass Sabine ausgerutscht, ins Wasser gefallen, abgetrieben wurde und dabei ertrunken ist.

      Ein banaler Unfall! Kein Selbstmord, kein Mord, einfach nur ein Missgeschick.

      Nach dieser Erkenntnis ziehe ich es vor, oben auf dem asphaltierten Uferweg weiterzulaufen, denn da fühle ich mich sicherer. Der Weg unten ist doch sehr verwachsen, es könnte mir ungesehen schnell mal ein böser Mann auflauern. Ich sage mir zwar: »Wer soll um diese Zeit Appetit auf eine mittelalterliche Joggerin haben?« Die betrunkenen Sandler schlafen noch ihren Rausch aus und die wenigen anderen Läufer schauen auch nicht wie Männer aus, die sich sportlich fit halten, damit sie eine weibliche Joggerin einholen können, um sie dann in die Büsche zu ziehen.

      Nur, warum ist Sabine unten gelaufen und nicht oben am Weg? Sie muss ja direkt am Wasser gewesen sein, denn sonst hätte sie nicht hineinfallen können. Dann wäre meine Unfalltheorie hinfällig. Also doch Selbstmord? Oder Mord?

      Vielleicht ist sie doch unten gelaufen, von einem bösen Mann überfallen, in die Büsche am Ufer gezerrt, beinahe vergewaltigt und dann ins Wasser geschubst worden? In der Obduktion gibt es keine Anzeichen für eine Vergewaltigung, deshalb »beinahe vergewaltigt«. Es gibt auch sonst keinerlei Hinweise für irgendeine Gewaltanwendung. Keine Kampfspuren wie Hämatome, Kratzer, ausgerissene Haare oder dergleichen. Nein, sie ist einfach nur ertrunken.

      Schade! Muss ich mich eben damit abfinden, dass es sich um einen banalen Selbstmord handelt. Ich tröste mich damit, dass ich so einen Fall mehr für meine Publikation habe. Trotzdem, ich bezweifle den Suizid.

      Schön ist so ein Morgen. Ein Erlebnis, das ich mir öfter gönnen sollte. Man vertut sich die schönen Seiten des Lebens immer durch die eigene Bequemlichkeit. Die Überwindung der Faulheit schenkt einem Augenblicke, die kostbar, weil nicht mit Geld zu bezahlen sind. Ob es wie heute die Sonne ist, die zwischen den Büschen die Luft erwärmt und mir die Ahnung von Sommer schenkt, oder auch ein Löffel selbst gemachter Marillenmarmelade, der den Tag schon beim Frühstück versüßt. Selbst gemacht muss sie allerdings sein – als Belohnung für die Überwindung meiner bequemen Kochphobie.

      Bei der Franzensbrücke angelangt, fühle ich mich schon großartig. Nicht nur wegen der Glücksgefühle durch meine heroische Überwindung der Bettanziehungskraft, sondern auch weil ich mir sage, dass ich durch die erhöhte Fettverbrennung zwei Scheiben Marillenmarmeladebrot statt einer Scheibe zum Frühstück essen darf – mit nüchternem Magen laufen verbrennt angeblich mehr Fett. Meine Marillenmarmelade ist selbst gemacht, wenn auch von Mama. Trotz meiner frühkindlichen Abgrenzungsproblematik ihr gegenüber kann ich diese Dienstleistung locker von ihr akzeptieren. Ich tue einfach so, als ob ich die Marillen selber eingekocht hätte.

      Der Morgenverkehr hebt an. War es noch schön ruhig beim Hinweg, so beginnt jetzt der Verkehrslärm zu rauschen. Jetzt kann sich keine Vogelstimme mehr gegen den Motorenlärm durchsetzen. Bin ich froh, dass ich schon am Rückweg bin!

      Sonst bemerke ich die Geräuschkulisse beim Laufen ja gar nicht, weil ich Musik höre. Da ich aber mein Handy in der Wohnung vergessen habe, gibt es auch keinen Beethoven, der meine Schritte beflügelt. Rund um die Strandbar Herrmann finde ich auch nichts Interessantes, zumindest nicht was Sabine K. betrifft. Außer Bierdosen, Tschickstummeln, kaputten Gläsern, dazwischen verdaute und unverdaute Speisereste, ist da nichts, auch keine Leiche. Riechen tut es allerdings so, als ob sich die vermodernden Überreste von halb Wien hier abgelagert hätten. Lebenslustige Freigeister haben gestern Nacht in der Strandbar offenbar ihnen entsprechende Geschenke hinterlassen.

      Nach der Urania führt der Weg entlang der U-Bahn. Otto Wagner würde sich im Grab umdrehen, wenn er sehen könnte, wie seine stilvoll gestalteten Wände der ehemaligen Stadtbahnlinie von dilettantischen Sprayerschnörkseln verunstaltet sind. Angesichts dieser Schändungen durch verdummte Halbwüchsige frage ich mich, ob da nicht eine Generation von Eltern völlig versagt hat. Ist es reaktionär, von Jugendlichen Respekt vor der Schönheit zu verlangen? Was bewegt diese Kinder zu glauben, dass ihre Schmierereien das Recht haben, Otto Wagners Ästhetik zu überdecken? Ist die individuelle Anarchie ein Menschenrecht oder einfach nur ein Diebstahl an der Gesellschaft?

      Die Regeln macht der Zeitgeist und der war halt lange von der 68er-Generation geprägt. Die Auswirkungen dieser eigentlichen »Nichtregeln« erlebe ich täglich in meiner Ordination.