Abgetaucht. Constanze Dennig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Constanze Dennig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902998132
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ich ihm um den Hals falle.

      »Ich wurde aufgehalten …«

      »Wieso nicht länger? Ich arbeite noch.«

      »Sei nicht so zynisch.«

      »Ehrlich«, und zeige ihm den herausgerissenen Artikel.

      »Hm, und ich hatte schon ein schlechtes Gewissen.«

      »Solltest du auch haben, trotzdem.«

      Er küsst mich auf den Hals. Und mir wird warm. Dann noch einmal. Und mir wird wärmer. Dann auf den Mund. Und mir wird heiß. Wir gehen.

      »Zu dir?«

      »Zu mir.«

      Wir gehen zu ihm. Eigentlich mag ich das gar nicht so, weil es erstens bei ihm immer unordentlich ist und ich zweitens lieber in meinem Bett aufwache. Aber heute ist mir nicht mehr nach Auseinandersetzung. Ich will geliebt werden, und aus. Und da kann man sagen, was man will, das kann er, mein Michelangelo. Ist eben auch da ein Künstler. Lässt sich Zeit und genießt und genießt und genießt. Da bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auch zu genießen, zu genießen, zu genießen. Sogar wenn unsere Leidenschaft dann befriedigt ist, ist es immer noch schön. Dann kuscheln wir uns ganz eng zusammen und schlafen so lange Körper an Körper, bis einer von uns ein steifes Genick bekommt. Meistens ich. Der, bei dem als Erstem die Wirbelsäule einrastet, der dreht sich dann auf seine Seite. Meine ist die rechte, von vorne gesehen.

      Wenn ich aufstehe, selbstverständlich vor ihm, mache ich, falls wir bei mir zu Hause sind, Frühstück. In seiner Wohnung ergreife ich allerdings lieber die Flucht, denn seine vergammelte Küche bereitet mir morgens Übelkeit. Tja, da ist nichts mehr zu machen, ich meine erziehungsmäßig. Michael ist ein schrulliger Lebensjunggeselle. Entweder ich halte seine Unarten aus oder ich muss auf seine Liebeskünste verzichten. Immerhin ist es mit ihm kurzweilig und leider liebe ich ihn auch noch dazu.

      Ich denke, er ist ein besserer Lebenskünstler als Schriftsteller, aber das traue ich mich nicht zu sagen. Ein Lebenskünstler wie er lebt von seinem verinnerlichten Bild von sich. Nimmt man ihm das weg, dann ist er weder kurzweilig noch Künstler. Und dann, dann habe ich auch nichts mehr von ihm.

      Bevor ich endgültig aufwache, schwirren unzusammenhängende Gedanken durch mein Hirn, das sich noch in den REM-Phasen des Schlafs befindet. So ein Zustand, nicht Traum, nicht wach, plagt mich täglich. Ich mag das gar nicht, wenn meine Gedanken nicht geordnet, nicht auf einen Fokus zielgerichtet sind. Deshalb ziehe ich es immer vor, sofort aufzuwachen und aufzustehen. Mich noch einmal in einen tiefen Schlaf zu zwingen, dauert mir zu lange. Michael meint, das sei die präsenile Bettflucht, aber das ist ein Klischee bei einer Frau von fünfundvierzig. Präsenil war ich dann wohl schon mit sechzehn. Während er mit seinen sechsunddreißig Jahren und vier Monaten die postsenile Schlafsucht hat.

      Jedenfalls stehe ich wie immer um sieben auf, ziehe meine auf dem einzigen Sessel des Schlafzimmers gemixt mit seinen Klamotten liegenden Kleider aus dem Textilhaufen und stampfe demonstrativ laut aus dem Raum. Ich hoffe, Michael wacht auf und zieht mich noch einmal zu sich. Aber er schläft weiter. Der Tag beginnt mit einer Enttäuschung. Michael ist ein Ignorant, kein Feingefühl. Ich könnte mich ja zu ihm hinunterbeugen und ihn küssen, aber ich will, dass er von selber spürt, dass ich jetzt gehe. Auch gut, dann fällt mir die Trennung nicht so schwer.

      Während der Fahrt mit der U-Bahn nach Hause, um zu duschen, tauche ich in den morgendlichen Sumpf menschlichen Unglücks ein. So eine U-Bahn-Fahrt ist ein Eldorado für Misanthropen. Angesichts dieser Masse an deprimierten Gesichtern kann man gar nicht mehr auf die Idee kommen, dass menschliche Gesichter auch lächeln können. Zu Hause angekommen, bin ich auf meinen Arbeitstag gut eingestimmt.

      Da ich erst am Nachmittag Ordination habe, beschließe ich, mich um Sabine K. zu kümmern. Ich rufe meinen Studienkollegen Dr. Marchel auf der Gerichtsmedizin an:

      »Hier Alma. Ich will was …«

      »Wie immer. Du könntest dich auch einmal melden und mich zum Beispiel fragen, wie es mir geht. Einfach so. Ich meine ohne Leiche und ohne Todesart.«

      »Gut, Manfred, wie geht es dir?«

      »Super, wenn man davon absieht, dass im Institut gerade die Decke auf mein Mikroskop herunterbröckelt, die Heizung nicht funktioniert …«

      »Es ist Frühling, wozu brauchst du da eine Heizung?«

      »Es könnte wieder kalt werden, es könnte wieder regnen …«

      »Weichei! Zieh dir einen Pullover an. Ich hab in der Zeitung gele …«

      »Nein, bitte nicht. Die Wasserleiche?«

      »Genau, die.«

      »Uninteressant, klassisch, Selbstmord.«

      »Ich besuch dich, möchte sie sehen.«

      »Nur, wenn du mit mir nachher essen gehst.«

      »Dann hab ich keinen Appetit mehr.«

      »Was kann ich tun, dass du diesen Versager verlässt?«

      »Immer vor der Leiche mit mir essen gehen.«

      »Aber nach der Leiche hast du keinen Appetit mehr auf Sex.«

      »Lass es, Manfred, irgendwann schaffen wir es ohne Leiche, ich verspreche es. Kann ich jetzt kommen?«

      »Na, gut. Dann esse halt nur ich was, nachher.«

      Wieder U-Bahn, diesmal weniger Gesichter, die deprimiert dreinschauen. Das Morgentief der gesamten Wiener Bevölkerung endet normalerweise um circa elf, denn da geht’s bald in die Mittagspause. Drum ist es am besten, um Mittag herum mit den Öffis zu fahren. Da sind die Leute schon besser gelaunt, aber noch nicht betrunken, wie am Abend. Leider lässt sich dieser Rat nicht immer beherzigen, denn zum Spaß fährt wohl niemand.

      Beim Schottentor wechsle ich von der U-Bahn in die Straßenbahnlinie 37. Wegen der Bauarbeiten an den Gleisen wäre es besser gewesen, ich wäre gleich zu Fuß bis ins Gerichtsmedizinische Institut gegangen, das sinnigerweise in der Sensengasse ist. Ich frage mich schon seit Längerem, ob 1784, als die Gerichtsmedizin dorthin verlegt wurde, irgendein kreativer Beamter absichtlich die Straße so benannt hat oder aber, falls es die Sensengasse damals schon gegeben hat, dieser kreative Beamte bestimmte, dass das der richtige Ort für das Geschäft der Leichenbeschauer sei.

      Ich werde Manfred fragen, ob er das weiß. Ihm sozusagen eine Ursache-Wirkung-Frage stellen. Manfred weiß nämlich Dinge, die von keinerlei Bedeutung für das tägliche Leben sind. Das schätze ich sehr an ihm. Welcher Mensch kann sich schon den Luxus erlauben, sein Gehirn mit Informationen zu füllen, die keine Umwegrentabilität haben? Der normale Mensch nimmt Informationen zielgerichtet auf. Was nützt ihm dieses Wissen, was kann er davon profitieren? Falls das Gehirn feststellt, dass sich aus dieser Information kein, vor allem pekuniärer, Vorteil ergibt, wird die Information erst gar nicht abgespeichert. Manfreds Gehirn sucht sich aber gerade diese Mitteilungen aus, die gar nichts einbringen.

      Nach meiner Straßenbahnodyssee, die mir immerhin diese interessante Frage beschert hat, schlendere ich Richtung Gerichtsmedizin. Bevor ich das Gebäude betrete, ziehe ich noch einen Kaugummi aus der Handtasche. Irgendwie habe ich immer das Gefühl, dass der Pfefferminzgeschmack den schrecklichen Geruch der Leichen abmildert. Ist zwar Einbildung, aber der Kaugummi vermittelt mir den Eindruck von Frische. Noch besser wäre es, sich eine Zigarette anzuzünden, aber leider bin ich Nichtraucherin. Und nur wegen der wenigen Besuche im Leichenschauhaus werde ich auch nicht zu rauchen beginnen. Manfred raucht verständlicherweise. Anders ist sein Job wohl nicht auszuhalten.

      Manfred hat sein Büro im 1. Stock, aber er erwartet mich schon vor dem Eingang, rauchend. Wir küssen uns auf die Wange, rechts, links. Er versucht immer, von meinen Wangen Richtung Lippen zu rutschen, aber ich bin auf der Hut und drehe immer rechtzeitig meinen Kopf weg, sodass er die Luft küssen muss. Ich finde, ein Leichenschauhaus ist keine stimulierende Umgebung. Zumindest nicht für mich.

      Manfred ist gerne hier. Eben Gewöhnung. Er kann sogar seinen zerschnipselten Leichen eine ästhetische Komponente abgewinnen. Jedenfalls tut er so, wenn er mir begeistert