Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete er der Gruppe der Frauen. Was er aus Maria und ihren Begleiterinnen machte, war erstaunlich. Gar nicht von den Kostümen zu reden, die er jedenfalls auf das genaueste angegeben und bestimmt hatte, schuf er aus den Figuren wahrhaft biblische Gestalten.
Aber warum machte er sich so viel mit Maria Magdalena zu tun? Bei dieser konnte er nichts mehr hinzufügen, bei dieser mußte er so gut wissen wie ich, daß alles an ihr vollkommen war: Gestalt und Antlitz, Haltung und Gebärde. Er ordnete den Faltenwurf des dunkelblauen Gewandes, legte eine Strähne des aufgelösten Haares über ihre Brust, berührte ihre entblößten, prachtvollen Arme.
Sie ließ alles geduldig und ergeben an sich geschehen, ohne daß sie aufzublicken wagte. Christus stand von fern und sah traurig zu ihr hinüber.
Einmal führte einer der Kriegsknechte eine Störung herbei. Er spielte seine Rolle dem Heiland gegenüber so gut, daß er diesen straucheln machte. Der Pater fuhr ihn heftig an. Die wilde Gestalt war Alois.
Endlich hatten die Züge es ihrem Regisseur zu Dank gemacht; er erlaubte ihnen, auf der Richtstätte anzulangen. Während Soldaten und Männer aus dem Volk die Kreuze von den Rücken ihrer Träger abschnürten und Christus entkleidet wurde, hoben im Vordergrund die Jünger mit den Frauen eine ergreifende Lamentation an. Aber noch immer blieb Maria Magdalena stumm. Sie stand abseits von den anderen und blickte regungslos starren Auges zu Christus hinüber, mit einem stummen Spiel von einer Größe, die mich ganz fassungslos machte. Wie kam das Mädchen zu dieser Vollkommenheit?!
Unterdessen hatte man die drei in der realistischsten Weise an die Kreuze gebunden, die man jetzt langsam aufrichtete. Dieser Moment war von mächtiger Wirkung. In höchster Ergriffenheit sah ich das Kreuz mit dem Heiland vom Boden aufschweben. Aller Fassung beraubt, blickte ich auf den schönen gekreuzigten Leib. Die wilde Landschaft, die großen Volkshaufen, die grausame Wirklichkeit der furchtbaren Szene rissen meine Einbildungskraft fort. Ich wagte nicht, Maria anzusehen, weil ich fürchtete, den Anblick der unseligsten aller Mütter nicht ertragen zu können. Was mußte sie in diesem Moment empfinden?! Hier wurde auch die Mutter des Gottessohnes in jedem Gefühl ein sterbliches Weib. Mein Mitempfinden der Szene betäubte mich fast.
Um das Kreuz gelagert, würfelten die Kriegsknechte die Gewänder von Christus aus. Dieser hatte mit den Schächern gesprochen. Alles klang wie aus der Ferne zu mir herüber. Da sprang einer der Kriegsknechte empor, ergriff seinen Speer, stieß dem Herrn damit in die Seite. Ich schrie auf – nein, ich hörte unten jemand aufschreien: eine Frau, und das so fürchterlich, so herzzerreißend, so aller Beschreibung spottend, daß ich von Grausen gepackt ward. Dann sah ich, wie Maria Magdalena vorstürzte, zum Kreuze hin, sich daneben zu Boden warf, es im wilden Schmerz mit beiden Armen umschlang.
Da begriff ich's: Veronika war eine große Schauspielerin.
Ich konnte nicht erwarten, bis ich es ihr gesagt, es ihr zugejubelt haben würde.
Ohne noch einmal hinunterzublicken, verließ ich meinen Platz und erreichte auf einem Umweg den Wald auf der einen Seite der Bühne. Eine Schar von Frauen und Kindern umgehend, die, da sie bei der Kreuzigungsszene unbeschäftigt waren, hier lagerten, schritt ich vorwärts, als ich auf den Pater stieß. Er trat mir aus den Bäumen so plötzlich entgegen, daß ich unwillkürlich zusammenfuhr. Seine Haltung war eine ganz andere, als damals bei unserem Gespräch vor der Sennhütte: sie war gebietend, der Ausdruck des Gesichts stolz und kalt.
»Sie wollen gewiß zu Veronika, um ihr zu sagen, daß sie eine große Schauspielerin ist,« sagte der dämonische Mensch und sah mich dabei durchdringend an. »Ich fürchte, es wird Ihnen nichts helfen. Übrigens ist die Szene aus. Sie können zu ihr.«
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ging ich an ihm vorbei und betrat den Spielplatz. Hier lief alles durcheinander. Ich drängte mich durch das bunte Gewühl der Richtstätte zu, wo eben die Kreuzabnahme stattgefunden hatte. Augustin, wieder in seine braune Tunika gehüllt, saß ganz erschöpft auf einem Felsblock, Veronika stand neben ihm. Als sie mich auf sich zukommen sah, ging sie mir entgegen.
»Einer der Knechte hat ihn zu stark mit dem Speer getroffen,« sagte Veronika, »daß es ihn heftig schmerzt. Ein Glück, daß das Eisen stumpf war. Bei der Vorstellung muß ihm der Mann eine kleine, mit Blut gefüllte Blase aufstechen, die er an der Seite unter dem Trikot tragt, deshalb muß er sich jetzt auf den Stoß üben. Wenn er blutet, muß es fürchterlich sein,« schloß sie zusammenschauernd.
Sie war sehr blaß, in der Verstörung ihres ganzen Wesens noch immer Maria Magdalena.
»Veronika, liebes Mädchen, kannst du mich einen Augenblick anhören?«
Sie sah mich groß an, zauderte, schien mit den Augen den Pater zu suchen. Dann nickte sie schweigend und schritt mir voran zu einem Platz, wo wir unbeobachtet waren.
»Was haben Sie mir zu sagen? Was ist vorgefallen?«
Ich warf mich ihr um den Hals und flüsterte ihr zu: »Mädchen, Mädchen, ich will dir Größeres geben als jener Priester: die Kunst.«
Ein Schwindel überfiel sie. Mit geschlossenen Augen sank sie gegen meine Brust und lag dort eine Weile regungslos. Dann erholte, dann erhob sie sich.
»Sie meinen es gut mit mir. Sie zeigen mir einen Himmel, zu dem ich doch nicht hinauf kann; weit eher ist jener andere für mich erreichbar. Übrigens ist es zu spät. Ich habe heute meinem Verlobten gesagt, daß ich sein Weib werden will. Er ist so glücklich. Mein Platz auf dieser Welt ist fortan an seiner Seite.«
»Und der Pater?«
»Er will für mich beten, daß mir verziehen werde.«
Dann nach einer Pause sehr leise: »Im Frühjahr will er mich mit Augustin trauen und dann will er fort, in die Urwälder, zu den wilden Völkern, wohin ––––«
»Du ihn hättest begleiten sollen,« fiel ich ihr ins Wort. »Ach, Veronika, ich bin so froh über dich und zugleich so traurig. Nur das eine will ich dir heute noch sagen: Glaube nicht, daß du fortan dir selbst oder deinem Manne gehörst, mit deinem Talent gehörst du der Kunst, du magst wollen oder nicht: eine große Künstlerin zu werden, das ist deine Bestimmung.«
Die Pause war vorüber. Veronika wurde für ihre Hauptszene abgerufen: den Gang zum Grabe. Sie bat mich so dringend, so leidenschaftlich, ihr nicht zuzuhören, daß ich ihr willfahren mußte. Als ich ging, bemerkte ich den Pater im heimlichen Gespräch mit Alois. Er schien dem wilden Burschen Vorwürfe über den zu heftig geführten Speerstoß zu machen.
In nicht geringer Aufregung kam ich nach Hause, wo ich Fernow alles erzählte. Wir beschlossen, mit Pfarrer Andreas zu reden.
Vierzehntes Kapitel
Das Passionsspiel
Noch an demselben Abend besuchten wir unsern würdigen Freund.
»Veronika war bei mir,« rief er uns in starker Bewegung entgegen. »Der Pater verliert seine Macht über sie, sie heiratet ihren wackeren Augustin. Welchem guten Engel haben wir diese wunderbare Wandlung zu danken?«
Er sah dabei mich an, die ich freudig lächelnd den Kopf schüttelte.
»Ihrem eigenen guten Engel, keinem fremden, lieber Freund. Wir teilen Ihr Glück im vollsten Maße; Ihre Schwester ist Ihnen wiedergegeben.«
»Mir und ihrem Gott!« rief der Geistliche mit starker Stimme. »Aber woher wissen Sie es bereits?«
»Aus ihrem eigenen Munde.« Und ich erzählte ihm alles. »Ich hoffe, daß sowohl