Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
Скачать книгу
Gefährte in der Alpenwildnis war ein schlanker, hübscher Bursche mit einem kühnen, fast wilden Gesicht, mit trotzigen, düstern Augen, die er gewöhnlich gesenkt hielt. Er lebte Sommers und Winters in der Einsamkeit, wo er mit einer alten Mutter hauste. Nur des Sonntags kam er ins Kirchdorf hinab und mit Menschen zusammen. Er war ein Edelweißsucher. Sobald im Frühsommer der Schnee zu schmelzen begann, war er oben und verbrachte die Tage am Rande von Abgründen, in die er sich oft an Seilen hinunterließ, an Orte, wohin mancher Gemsenjäger sich nicht wagte. Er war so oft in Lebensgefahr gewesen, daß ihm der Tod als etwas vollkommen Gleichgültiges erschien. »Einmal,« so meinte er ganz gelassen, »stürze ich doch hinunter.« Die Blumen, um deren strahlenden Kelche willen in den Alpen so viel Menschenblut fließen muß, wurden von Alois sorgsam gepreßt und von der Mutter weit fort in die Städte des Kaiserreichs getragen. Übrigens wollte man wissen, daß des Alois alte Mutter unter ihren Blüten auch noch anderes zum Verkauf in die Ferne trug: Adlerfedern und den gekrümmten Schweif des Auerhahns.

      Wenn Alois vor einem Heiligenbild vorüber kam, grüßte er dasselbe mit scheuer Demut. Dem Pfarrer Andreas küßte er, so oft er ihm begegnete, inbrünstig die Hand. Als sich einmal die schwarze Gestalt des Jesuitenpaters in der Ferne zeigte, fiel mir auf, wie der junge, trotzige Bursche in seltsame Aufregung geriet.

      Meinen staunenden Augen enthüllten sich die Wunder der Alpenwelt. Indem diese für mich ihre Einsamkeit auftat, führte sie mich in ihre Erhabenheiten ein. Wenn das Tal tief unter mir lag, immer mehr und mehr vor meinen Blicken versinkend, aufbrauende Nebel mir es völlig entzogen – wenn rings um mich die Felsenfelder sich dehnten, über mir Klippen und Gletscherwände ins düstere Gewölk empordrangen, mir auch der Himmel entschwunden war, kein Ton die schauerliche Lautlosigkeit unterbrach, so hob mich diese starre Größe mächtig über mich selbst hinaus, daß ich mein kleines Schicksal darüber vergessen konnte und mich ganz in die unendliche Schönheit der Schöpfung verlor.

      Eines Tages beschloß ich, Veronika aufzusuchen, die unterdessen auf die Alm gezogen. Als ich meinem Führer sagte, wo wir heute hin wollten, benahm sich dieser ganz sonderbar. Ich achtete nicht weiter darauf.

      Wir hatten einen weiten Weg bis zur Wasserfallalm; derselbe führte uns durch die wildesten Teile des Gebirges. Alois, der sonst dem Maultier weit vorauskletterte und dem ich gewöhnlich nur mit Mühe einige Worte entlocken konnte, kam diesmal nicht von meiner Seite. Er erzählte mir aufgeregt, mit einer wilden Naturpoesie von den Schönheiten seiner Berge.

      Welche Leidenschaft lag in der Liebe dieses Volkes zu seinem schönen, wilden Heimatsland! Ich begriff, daß sie zum Fanatismus ausarten konnte, gerade wie die Religion. Aber wie schön war hier dies Übermaß leidenschaftlicher Empfindung, die herrliche Mutter der größten Tugenden! Welche Heldentaten vollführte diese wahrhaft heilige Begeisterung; während jene andere, obgleich aus dem Göttlichsten stammend, alle dämonischen Leidenschaften im Menschen entfesselnd, die Erde mit Blut überschwemmt und mit Greueltaten bedeckt hat.

      Der schmale Pfad lief jetzt immer dicht am Rand von Abgründen entlang. Alois erschreckte mich mehreremal heftig: plötzlich war er vor mir in der Tiefe verschwunden, um gleich darauf wieber mit einem Strauß Edelweiß aufzutauchen. Er schien immer die gefährlichsten Stellen aufzusuchen. Dann und wann brach er in einen wilden Juchzer aus, den das Echo vielfach zurückgab.

      Ich fing an, müde zu werden. Noch immer war nichts von einer Alm zu erspähen: links gähnte der Abgrund, rechts starrten die Felsen. Auf einmal taten diese sich weit auseinander und wölbten sich zu einem Riesentor. Ich blickte in einen ungeheuren Felsendom, dessen Kuppel der blaue Himmel, dessen Boden eine blumige Wiese, darauf von Tannen umgeben die Sennhütte lag. Im Hintergrund des Alpenkessels stürzte sich von jäher Höhe ein Wasserfall, über dessen Staubwolken ein Regenbogen leuchtete, ins Tal. Kuhglocken läuteten, ein Hirtenknabe blies auf seiner Schalmei. Vor der Hütte sah ich jemand sitzen: Veronika. Als sie uns erblickte, stand sie hastig auf und begab sich ins Haus.

      Ich stieg ab und durchwandelte mit Entzücken die schöne Wiese, zwischen deren lichtem Grün die Blumenknospen wie darüber hingestreute Edelsteine funkelten. Alois war mit dem Tier vorangegangen. Vor der Hütte angekommen, ließ er dasselbe frei laufen und ging hinein. Als ich mich der Alm näherte, trat er wieder heraus, ohne sein Edelweiß und ganz verstört. Ich fragte ihn, was ihm geschehen sei? Er wandte mir den Rücken und ging in den Wald. In der Hütte fand ich bei Veronika den Jesuitenpater.

      Ich sah den unheimlichen Menschen zum erstenmal in der Nähe. Das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, stimmte in keinem Zuge mit der Wirklichkeit überein: eine schmächtige Gestalt, ein feines, blasses, geistvolles Gesicht, vornehme, fast anmutige Bewegungen. Nur an den Augen ließ sich der Fanatiker erkennen. Der Mund war zu sinnlich für einen Priester. Mir fielen sogleich seine weißen, zarten, überaus gepflegten Hände auf.

      Er erwiderte meinen mehr als kalten Gruß mit weltmännischem Anstand. Veronika war stumm und scheu. Alois' Edelweißstrauß lag achtlos hingeworfen auf einer Bank. Der Jesuit hatte eine Blume genommen, spielte damit, sah nach Veronika hinüber, lächelte.

      Das schöne Mädchen stand am Herd und schürte die Glut, über welche der Wolkenkessel hing. Ich wollte mich auf die Herdbank setzen; aber sie sagte hastig, ohne dabei aufzusehen: »In der Kammer ist's so niedrig und das Feuer raucht. Ich bitte, gehen Sie hinaus. Ich komme gleich nach.«

      Sie wollte mich sichtlich nicht in der Gegenwart des Paters lassen. Da ich dasselbe wünschte, so verließ ich ohne weiteres die Hütte. Der Jesuit machte mir eine tiefe Verneigung. Als ich an ihm vorbeiging, duftete mir ein starkes Veilchenparfüm entgegen. Ich blickte ihn nicht an, aber ich war überzeugt, daß er wieder nach Veronika hinübersah und dabei sicher wieder lächelte. Draußen wollte ich meinen Führer aufsuchen, aber er war nirgends zu sehen. Auch auf mein lautes Rufen erhielt ich keine Antwort. Alois suchend, ging ich an dem offenen Fenster der Hütte vorüber. Drinnen wurde leidenschaftlich geflüstert.

      Ich setzte mich im Schatten auf eine Holzbank, die an einer Seite des Blockhauses entlang lief, und überblickte träumerisch die wunderbare Schönheit des Ortes. Die Blumen und Bergkräuter dufteten zu mir auf, die Tannen strömten kräftigen Harzgeruch aus, Käfer und Schmetterlinge flatterten im Sonnenschein. – – Wo hatte ich das schon einmal erlebt?

      Ich verlor mich in Sinnen und vermochte doch nicht, mich zu erinnern. Es mußte vor langer Zeil gewesen sein. Vielleicht in meiner Kinderzeit, wo ich glaubte, mit Sonnenstrahlen spielen zu können und meine Händchen nach dem blauen Himmel ausstreckte.

      Auf einmal stand der Jesuitenpater vor mir und betrachtete mich lächelnd.

      »Verzeihen Sie, gnädigste Frau, daß ich mir erlaube, Sie Ihren stillen Betrachtungen zu entreißen,« redete mich dieser Mensch mit sanfter, einschmeichelnder Stimme an. »Aber wie ich soeben von unserer guten Veronika gehört habe – nachlässig warf er den Namen hin – sind Sie gleich mir diesem seltsamen Mädchen wohlgesinnt. Dieses gleiche Interesse, welches wir beide an einer und derselben Persönlichkeit nehmen, gestattet mir, mich Ihnen hier selbst vorzustellen.«

      Er nannte mir seinen Namen und verneigte sich von neuem übertrieben tief. Möglichst gelassen erwiderte ich: »Es verhält sich in der Tat, wie Ihnen Veronika sagt. Ich hege für das Mädchen die lebhafteste Teilnahme, hatte aber bis jetzt leider noch keine Gelegenheit, sie dessen zu versichern. Es freut mich, daß Veronika meine freundschaftlichen Empfindungen für sie bemerkt hat; nur verstehe ich nicht, wie sie dazu kam, hierüber mit Ihnen zu sprechen.«

      »Ich bin ihr Freund – ihr Priester,« fügte er nach einigem Zaudern hinzu.

      »Auch das kann ich nicht begreifen,« versetzte ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie dieses Mädchens Freund und Priester? Sie scheinen zu vergessen, daß Veronika die Schwester des Pfarrers Andreas ist. Wenn sie einen Freund und Priester nötig hat, wird sie denselben bei ihrem Bruder finden.«

      »Sind Sie, meine gnädige Frau, dessen so gewiß?«

      Weder durch seine Mienen noch durch den Ton, womit er das sagte, ließ ich mich aus meiner Ruhe bringen.

      »Vollkommen gewiß! Was ich von dem Mädchen bisher gehört und gesehen, hat mir den Glauben gegeben, daß dieses starke Gemüt