»Aber diesen Ausdruck des Sterbens?«
»Das habe ich mir so gedacht. Es war gar nicht schwer.«
Pfarrer Andreas, hoch erfreut über die herrliche Arbeit, bestimmte das Kruzifiz für den Altar der Kirche. An Augustins und Veronikas Hochzeitstag sollte es feierlich eingeweiht werden.
Die Passionsspiele hatten unter einem ungeheuren Zulauf der Gebirgsbevölkerung begonnen. Das Tal widerhallte von den Gebeten der Wallfahrer. Von allen Seiten stiegen die Züge die Felsen hinunter: ein schönes, starkes Menschengeschlecht, aber von religiösen Leidenschaften angekränkelt. Manchmal, wenn ich die schlanken Jünglinge und markigen Männergestalten an mir vorüberschreiten sah, dachte ich: was könntet ihr für ein Volk sein, stark und – frei! In der Nähe des Dorfes, auf der Flußwiese, waren für die vielen fremden Gäste Hütten gebaut worden, darin sie sich je nach ihrem geistlichen Bedürfnis auf kürzere oder längere Zeit niederließen. Verkäufer und Krämer schlugen daneben ihre Buden auf, schlechtes Gesindel kam hinzugelaufen. Abends wurde gezecht und getrunken. Es fehlte nicht an Händeln, die blutig endeten. Die Dorfbewohner, von denen der größte Teil Mitspieler waren, trieben es am wüstesten. Auf den Feldern verdarb der letzte Rest der spärlichen Ernte.
Die Kirchenglocken hallten nicht mehr wie sonst über das Tal hinweg, denn Pfarrer Andreas hatte jede besondere Feierlichkeit verweigert. Das Gotteshaus stand verödet. Desto fleißiger ward der heilige Dienst im Lager der Wallfahrer betrieben. Hier predigte der Pater alle Morgen und Abend und übte eine widerstandslose Macht über die Gemüter aus. Bei den Frauen kamen Anfälle von Verzückungen vor. Fernow und die Beamten hatten die größte Mühe, einige treue, wackere Männer bei der Arbeit zu behalten. Die meisten liefen von uns fort, den Spielen und dem Pater zu; kaum daß das Allernotwendigste verrichtet werden konnte. Es war im Dorfe bereits zu lauten Drohungen gegen uns gekommen.
Natürlich hatten weder Fernow noch ich einer der Darstellungen beigewohnt; aber wir hörten von nichts anderem reden. Jedesmal geschah irgendein Ausbruch von fanatischer Zerknirschung und Buße. Das Volk warf sich auf die Knie, die Vorstellungen durch die wilden Äußerungen seiner Andacht unterbrechend. Oft trat der Pater selbst auf und donnerte von der Bühne herab, vor den Gestalten der heiligen Handlung, für die Mission. Für Christus mußte jedesmal eine neue Dornenkrone gewunden werden, da sich die Weiber um die Splitter derselben rissen. Am liebsten hätten sie nach jeder Vorstellung auch das Kreuz zertrümmert, um Stücke davon als kostbare Reliquien mit sich nach Hause zu nehmen. Wie vorauszusehen war, bildete der Kreuzigungsakt den Gipfelpunkt der Extase. Danach trat die physische Erschöpfung ein.
Christus mußte sich den öffentlichen Huldigungen gewaltsam entziehen, aber Maria Magdalena war durch den Pater beinahe zum Gegenstand eines Kultus geworden. Wir sahen in diesen aufgeregten Tagen weder Augustin noch Veronika; hörten jedoch, daß beide sehr leidend aussehen sollten. Der Bräutigam sei schwermütig, des Mädchens Wesen wußte man vollends nicht zu deuten.
Auch das wurde uns erzählt: Alois sei so wüst und wild, spiele bei den Zechgelagen und Schlägereien eine so große Rolle, daß seine polizeiliche Inhaftnahme nur durch den Pater verhindert worden sei.
So standen die Sachen, als endlich die letzte Vorstellung stattfinden sollte.
Am Tage vorher brach ein heftiges Gewitter los, dem ein starker Regen folgte. Erst gegen Morgen hörten die Güsse auf, aber die Sonne konnte die Wolkenmasse nicht durchdringen. Dicht lagerten die trüben Schichten über dem Gebirge und sanken langsam immer tiefer. Ein ungeheurer aschfarbener Vorhang verhüllte Himmel und Erde. Wo das Gewölk auf den Fels aufstieß, war es nachtschwarz. Eine düstere Sintflut wälzte sich über den Boden dahin, drang in alle Schluchten ein, rieselte in jede Spalte, Die schwüle Luft, durch keinen Windhauch bewegt, drückte herab wie Wüstenodem.
Von meinem Fenster aus sah ich die Scharen der Wallfahrer in undeutlichen, schwankenden Zügen den Nebel durchziehen. Sie schienen heute kein Ende zu nehmen. Und wie unheimlich ihre Gebete klangen! Ich stellte mir vor, wie sie durch die Schlucht zogen, auf dem Festplatz anlangten, dort sich schweigend niederließen und nun im Nebel die heiligen Gestalten auftauchten, ein Heer gespenstischer Erscheinungen, die sich, immer von Dunstschleiern umwogt, wie Menschen gebärdeten. Der blasse Christus schritt einher, Maria Magdalena erschien, ihr gelbes Haar von grauen Binden durchschlungen. Plötzlich verschwand alles.
Dann ein Schrei – und aus dem Gewölk bäumte sich das Kreuz empor mit dem bleichen, leuchtenden Leib. Fürchterlich war's, wie durch die Nebel das Blut rann!
Ich hatte meinen schlimmen Tag; Fernow wich nicht von meiner Seite. Von Angst gefaßt, irrte ich durch alle Zimmer, wie gewöhnlich in laute Phantasien ausbrechend. So verstrichen langsam die Stunden, ohne daß sie hellen Tag gebracht hätten. Ich bat, daß man nach dem Pfarrer schicken, daß man mich hinauslassen möge. Es war Nachmittag, als ich an Fernows Seite dem Erwarteten entgegenging. Da kam uns vom Dorfe her durch den Nebel einer entgegengestürzt.
»Was ist geschehen?«
»Der Doktor soll gleich kommen. Sie haben den Christus erstochen!«
»Das hat Alois getan!« schrie ich auf.
Wir liefen zum Schlosse zurück. Fernow raffte sein Verbandszeug zusammen, beschwor mich, möglichst ruhig zu sein und das Haus nicht zu verlassen, eilte davon. Nach einigen nutzlosen Versuchen, auf meinem Zimmer zu bleiben, folgte ich ihm.
In der Schlucht angekommen, hörte ich hinter mir meinen Namen rufen. Es war der Pfarrer, der vom Dorfe kam. Ohne ein Wort zu wechseln, eilten wir vorwärts. Andere zurückgebliebene Dorfbewohner, welche das Schauerliche gleichfalls erfahren hatten, liefen an uns vorüber und verschwanden in der dunkeln Nebelschicht, dahinter alles still blieb.
Endlich waren wir dort.
Das gesamte Volk hatte sich auf die Bühne gedrängt und verharrte hier lautlos. Mit Mühe bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Plötzlich standen wir dicht davor.
Sie hatten ihn vom Kreuz herabgenommen und auf die Mäntel der Jünger gelegt, Fernow kniete neben ihm und untersuchte die Wunde, der bereits eine Lache Blutes entquollen war. Veronika hatte seinen Kopf auf ihrem Schoß und schien keiner Empfindung fähig; die düstere Gestalt des Paters sah ich unterm Kreuz stehen.
Da stand Fernow auf: es gab keine Hilfe mehr.
Dem tiefen Schweigen folgte ein wilder Tumult. Das Volk war außer sich. Einige setzten dem Mörder nach, während der wirkliche Täter noch immer ruhig an das Kreuz gelehnt stand. Unter lauten Lamentationen führten die Frauen die Eltern des ermordeten Jünglings herbei.
Der Pfarrer, Fernow und ich beschäftigten uns mit Veronika, ohne ihr jedoch eine Bewegung, ein Wort, einen Blick abgewinnen zu können. Als man ihren Bräutigam von ihrem Schoß aufheben und davontragen wollte, sank sie mit dem Oberleib über ihn, mit ihrer Stirn gerade auf die Wunde. Da trat der Pater zu ihr und bat sie – nein, gebot ihr, aufzustehen. Als sie nicht sofort gehorchte, beugte er sich zu ihr herab und berührte sie am Arm. Von seiner Hand wie magnetisch emporgezogen, erhob sie sich. Ihr Bruder und ich wollten sie in unsere Mitte nehmen, sie aber winkte uns mit dem Haupte fort.
Die Szene gestaltete sich immer wilder. Die Dorfleute, fast sämtlich in orientalischen Kostümen, drängten die Fremden zurück. Man befreite jetzt die beiden Schächer, die man so lange hatte hängen lassen, von ihren Banden.
Als wäre es nur die Dekoration der Tragödie gewesen, begann das Gewölk sich jetzt allmählich langsam zu heben.
Unterdessen hatte man den Toten aufgehoben und mit einem Mantel zugedeckt. Bevor man die Leiche forttrug, trat Pfarrer Andreas dicht vor dieselbe und sagte mit seiner mächtig schallenden Stimme: »Schrecklicher, als an dem Täter, wird dieser Totschlag an dem Urheber gerächt werden.«
Dabei heftete der kühne Mann seine Augen fest auf den Pater. Dann setzte sich der traurige Zug in Bewegung; aber anstatt den toten Sohn in das Haus seiner Eltern zu tragen, wurde die Bahre in der Kirche vor dem Altar niedergesetzt, auf welchem Pfarrer Andreas Augustins Kreuz errichtete.
Veronikas Zustand war jammervoll. Wir konnten sie weder bewegen, die Kirche zu verlassen, noch ihr blutgetränktes Gewand