Der Pfarrer war heftig erschüttert.
»Sollte dies die Lösung ihres Wesens sein, das sie für die Ihren und sich selbst unverständlich machte, das sie nach etwas Unbekanntem und scheinbar Unerreichbaren suchen ließ, bis sie sich selbst darüber fast verlor? Eine Künstlerin! Als kleines Kind stand sie da, ihre Gebete sprechend, daß wir sie anstaunten und ihre schwache, törichte Mutter womöglich unserer Familie eine zukünftige Heilige prophezeite. Wie oft, wenn ich meine Ziegen hütete, kam sie zu mir, tage- und wochenlang meine Einsamkeit teilend. Dann holte ich ihr Edelweiß, Alpenrosen und Genzianen, daraus sie sich Kränze wand und Kronen flocht. Wie ward mir, wenn ich sie so festlich geschmückt, feierlich dastehen sah unter den wilden Felsen und sie mir wunderbare Dinge verkündete. Unser Kindertraum damals war, daß ich Lesen und Schreiben lernen sollte. Dann wollte ich ausziehen und sie mit mir, um mit der Macht des göttlichen Wortes Wunder zu vollbringen. Und nun sollte ein Teil dieses Traumes sich wirklich erfüllen? Meine kleine Schwester eine grüße Künstlerin! Ich verstehe nicht viel davon und was ich darüber gehört habe, blieb mir fremd und von mir unbegriffen. Ich glaube nicht, daß meine Schwester glücklich sein würde. Die Sache, wie ich sie auffasse, ist dazu zu groß, zu mächtig. Aber Sie stehen hier und sprechen für sie; so antworte ich Ihnen denn: nicht ich habe das Recht, sie zurückzuhalten. Doch hat sie nicht bereits über sich entschieden? Will sie nicht jenes wackeren Jünglings Weib werden? Ist da nicht ihre erste Pflicht, Gattin und Mutter zu sein? Oder könnt ihr, meine Freunde, euch das eine mit dem andern vereinigt denken? Ich glaube, Veronika hat das Rechte gewählt: das sichere Glück, das nicht ohne Entsagung gekauft werden kann.«
»Das sichere Glück, das sie ihrem Gatten bringt,« antwortete Fernow. »Vielleicht wird sie nicht selbst glücklich sein, aber sie wird beglücken.«
»Kann man beglücken, ohne selbst glücklich zu sein?« fragte der Geistliche mit einem feinen, liebenswürdigen Lächeln.
Ich war voll widerstreitender Empfindungen, und glaubte einen tiefen Blick in Fernows Herz getan zu haben. Also auch dieses starke, unerschütterliche Herz hatte seine Wandlungen durchmachen müssen. Immer wieder klang des Pfarrers Antwort in mir nach: Kann man beglücken, ohne selbst glücklich zu sein?
Wir besprachen uns noch, als die Magd eintrat und meldete: Augustin stehe draußen. Ob er hereinkommen dürfe?
»Wir wollen ihm vorderhand nichts sagen,« bat Pfarrer Andreas. »Es wäre jedenfalls ein harter Schlag für den guten Jüngling, der wahrlich treu und schwer genug um sein Mädchen geworben hat. Kaum gewonnen, würde er Veronika bereits von neuem für sich verloren betrachten. Ihr glaubt nicht, wie lieb er mir ist. Er ist ein prächtiger Mensch!«
»Mir scheint,« meinte Fernow, »daß in ihm alles Gute und Tüchtige Ihres Volkes vereinigt ist, alle jene Instinkte und Regungen, um derentwillen Sie Ihr Volk so begeistert lieben und für dasselbe eine bessere Zukunft hoffen. Gewiß gibt es in diesen Tälern und auf diesen Bergen noch manchen, der dem Jüngling gleicht.« Stumm drückte der Pfarrer Fernows Hand; dann trat Augustin ein.
Es war unmöglich, ihn anders als mit höchstem Wohlgefallen zu betrachten. Besonders mir galt er als Beweis einer alten Lieblingsbehauptung, die mich stets in einem edlen Körper eine edle Seele suchen ließ. Namentlich bei Gestalten aus dem Volk, hatte ich in dieser Beziehung schon die größte Freude erlebt.
Augustin grüßte zuerst uns und wurde darauf von Veronikas Bruder in die Arme geschlossen. Seine Befangenheit, die ihn nur noch liebenswürdiger machte, schwand bald. Er mochte fühlen, wie herzlich gut wir es mit ihm und Veronika meinten. Als wir das Gespräch auf sie brachten, wurde er förmlich beredt.
»Ich bin ihrer ganz unwert,« endete er die Lobpreisungen der Tugenden seines Mädchens.
»Der Pater bleibt wohl bei deinen Eltern wohnen?« warf der Pfarrer hin. Es war jedoch leicht zu bemerken, welche Anstrengung ihn diese Äußerung kostete.
»Meine Eltern wollen ihn nicht fortlassen,« erwiderte Augustin und sah zu Boden, »Der ganze Hof scheint ihm zu gehören; er braucht nur zu befehlen. Ich weiß auch nicht, wie er es angefangen hat,« setzte er hilflos hinzu.
Der Pfarrer verlor seine Selbstbeherrschung.
»Dieser Mensch!« rief er mit zuckenden Lippen. »Den Pfarrer treibt er aus der Kirche und die Kinder aus dem Herzen der Eltern.«
Er wollte noch mehr sagen, besann sich, schien über sich selbst zu erschrecken.
»Da Veronika dich gegen den Willen des Paters zum Manne nehmen will, so können deine Eltern ja unmöglich damit einverstanden sein.«
»Ich bin nicht mehr der Sohn meiner Eltern,« antwortete Augustin und wurde totenblaß.
Eine lange, peinliche Pause entstand.
»Ich hab's ja gesagt,« hörte ich den Pfarrer murmeln. Dann wandte er sich ab. Als ich ihm wieder ins Gesicht blicken konnte, machte mich der starre, düstere Ausdruck desselben betroffen.
»Da Veronika noch nicht wieder in das Haus ihres Bruders gezogen ist, so ziehst du herein,« sagte er kurz, fast streng. »Warum wollt ihr eigentlich eure Hochzeit noch so lange hinausschieben? Ich dulde das nicht. Sobald das Passionsspiel vorbei ist, gebe ich euch zusammen. Teile das deiner Braut mit.«
Seine Worte ließen keine Entgegnung zu. Augustin stand auf, zauderte jedoch zu gehen. Er mußte noch etwas auf dem Herzen haben.
»Sag's nur,« ermunterte ihn der Pfarrer. »Die Herrschaften sind deine Freunde.«
»Ich weiß, daß ich Euch mit dem Spiel ein großes Leid angetan habe,« klagte der Jüngling sich an. »Aber Eure Schwester bat mich darum und daß ich der nichts abschlagen kann, das müßt Ihr mir wohl oder übel verzeihen. Mich hat's selber gewundert, daß der Pater es erlaubt hat. Mir graut es, daß ich unsern Herrn und Heiland spielen soll. Ich wage darum gar nicht mehr über die Gasse zu gehen und jemand ins Gesicht zu sehen. Wenn sie mich kreuzigen, komme ich mir wie ein Sterbender vor. Wenn es nur etwas nützen könnte, dann wollte ich ja gerne – –«
Er verstummte plötzlich – und griff sich an die Seite, wohin ihn heute der Stoß des Kriegsknechtes getroffen.
Um unsere Gedanken auf etwas anderes zu lenken, sprach Fernow von den Wirkungen des Spiels auf das Landvolk, die er unter allen Umständen für außerordentlich stark und ergreifend hielt. Pfarrer Andreas lehnte jedoch jedes Eingehen auf dieses Thema ab. Mit leuchtenden Augen rief Augustin aus: »Wer sollte da nicht glauben müssen? Ach, Maria Magdalena, du allerärmstes Weib, du allerärmste Sünderin! Wie ich heute am Kreuz hing und sie um meinetwillen so aufschrie, da ward ich ganz froh, daß ich um ihretwillen sterben durfte. Mein Tod wird sie gewiß erlösen.«
Wir blickten einander erstaunt an.
»Ich habe Euch etwas mitgebracht,« sagte Augustin zum Pfarrer, plötzlich ganz verlegen und schüchtern. »Es ist draußen. Darf ich's hereinbringen?«
Er ging und kam sogleich wieder zurück, etwas Verhülltes tragend. Das Tuch abnehmend, sprach er demütig: »Es ist für Eure Kirche.«
Es war ein großer, gekreuzigter Heiland, auf dunkelbraunem Stamm von blassem Lindenholz geschnitzt.
Wir hatten die Kunst des jungen ›Meisterschnitzers‹ bereits vielfach rühmen hören; aber was wir sahen, übertraf jede Erwartung. Nur, daß es kein Heiland, kein Gottessohn war, sondern ein gekreuzigter Mensch. Aber dieser Mensch war wirklich ans Kreuz geschlagen worden, litt wirklich Todesqualen, starb wirklich. Wie war es möglich, ohne jedes Studium des Nackten zu einer solchen Naturwahrheit zu gelangen, zu einem solchen edlen Realismus? Dieser Jüngling mochte kaum einen nackten Körper gesehen haben und hatte einen solchen gebildet, in vollster Linienschönheit, dabei in einer Weise, daß man zu sehen glaubte, wie die Glieder vom Todeskampf durchschauert wurden, wie die Lippen sich schmachtend öffneten, wie die Qual ihnen ein Stöhnen entriß, wie das Antlitz tiefer und tiefer sank, die Züge erstarrten, die Augen brachen – –
»Nach welchem Modell habt Ihr dies gearbeitet?«