Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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hat mir Mahnungen und zugleich Warnungen erteilt, zugleich Rügen. Ich kennte dieses Volk nicht, Fremde verstünden es besser. Ich sei bestrebt, es von Rom hinwegführen zu wollen, wohin? Sie sagen es nicht. Wahrscheinlich dem sündigen Fortschritt zu, in die verdammenswerte Aufklärung hinein. Heute zum erstenmal ist mir der Gedanke gekommen, daß ich eben ein unwissender Hirtenknabe gewesen, der die Welt nicht kennt. Sie wollen mich fort haben von hier. Soll ich gehen?«

      Fernow beruhigte ihn. Er sagte ihm, daß er bleiben müsse, daß er nicht gehen dürfe; man verlasse sein Liebstes nicht gerade dann, wenn es in Gefahr schwebe. Mehr als jemals sei er jetzt hier nötig.

      »Sie mögen recht haben. Wer weiß auch, ob meine Schwester mich begleiten würde, wenn ich ginge.«

      Er stand auf.

      »Wüßte ich nur, welches der Zweck dieses Menschen ist. Um das arme Volk von Hirten und Bauern kann es ihm doch unmöglich zu tun sein. Sehen Sie ihn an, diesen jesuitischen Aristokraten. Was weiß er vom Volk? Er verachtet es ja!«

      Der zornige Schmerz erschütterte den ganzen Mann. Er vermochte nicht weiter zu reden.

      »Aber die Regierung!« rief ich endlich aus, nur um etwas zu sagen.

      »Die Regierung – –«

      Mit diesem Worte brach es unaufhaltsam aus der Seele unseres Freundes hervor: Grimm, Haß – Verachtung.

      Als wir endlich gingen, begleitete er uns. Es war beschlossen: ja, er wollte bleiben.

      Am nächsten Tage hörten wir, daß der Pater das Pfarrhaus verlassen und zu Augustins Eltern übergesiedelt sei. Alois trat zuerst aus unseren Diensten aus. Er verschwand im Gebirge und verwilderte in kurzer Zeit. Veronika blieb auf der Alm.

      Die Bewohner des Tales hatten früher das Recht besessen, Passionsspiele aufzuführen. Des Unfugs wegen, der bei diesen Vorstellungen stattgefunden, waren sie untersagt worden. Pfarrer Andreas pries dieses Verbot als ein großes Glück für das Volk.

      Diese Passionsspiele waren zu einem wahren Leiden für das Dorf, zu einem wahren sittlichen Schaden geworden. Bereits Monate vorher wurde jung und alt vom Taumel ergriffen, die Arbeit vernachlässigt; bei vielen blieb sie ganz liegen. Aller Gedanken waren auf das Spiel gerichtet und das in einer Weise, die jede erhebende Wirkung von vornherein ausschloß. Allein schon die Verteilung der Rollen veranlaßte Streitigkeiten. Im Dorf bildeten sich Parteien. Familien verfeindeten sich; es kam zu den abscheulichsten Szenen. Waren endlich die Rollen verteilt, so waren darum Neid und Groll nicht beseitigt. Immer heftiger griff das Fieber um sich. Von jener kindlichen Naivität, jener schönen Unbewußtheit, die allein solchem Spiel die Weihe gibt, empfand man schon seit langem nichts mehr. Diejenigen, welche bei den Aufführungen nicht beteiligt waren, verloren mit den andern jede Lust zur Arbeit und durchzogen schließlich als Bettler die Umgegend. Zur Zeit der Spiele kamen in Monaten mehr Diebstähle vor als sonst in Jahren. Trotz der heiligen Aufführungen hatte das Dorf den bösesten Leumund. Doch alle diese Übelstände waren einer gewissenlosen Geistlichkeit gleichgültig. Durch die Darstellungen ward die religiöse Leidenschaft des Volkes zum Fanatismus gesteigert; also ließ man sie geschehen. Als dann der Staat einschritt, war bereits zu viel verdorben.

      Diese Spiele nun hatte man der Gemeinde von neuem gewährt und ihr altes Recht dazu bestätigt.

      Das hatte der Pater durchgesetzt. Die zum Teil selbstverschuldete Armut des Dorfes mußte den Vorwand geben. Denn, indem man durch die Vorstellungen Fremde herbeizulocken hoffte, glaubte man den Grund zu neuem Wohlstand legen zu können. Alle Schritte, die Pfarrer Andreas dagegen getan, hatten keine andere Wirkung gehabt, als ihn von seiner Gemeinde nur noch mehr zu trennen; mit gebundenen Händen mußte er zusehen, wie die Krankheit von neuem die Gemüter ergriff.

      In diesem Spätsommer nun sollten die ersten Festspiele stattfinden, zu denen jedoch nur das Volk zugelassen wurde. Erst bei den Wiederholungen im nächsten Frühjahr war auch den Fremden der Zutritt gestattet.

      Augustin stellte Christus dar, Veronika war von dem Pater für Maria Magdalena bestimmt worden. Wir wagten nicht, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen.

      Ich ward mit von der allgemeinen Aufregung ergriffen. War es auch nur ein ärmliches Alpenvolk, so war es doch Spiel. Man stellte Ereignisse dar, verkörperte fremde Gestalten, trat aus sich und seinem engen Dasein hinaus in ein höheres hinein. Wie glücklich sie waren!

      Wo ich davon reden hörte, horchte ich auf. Wenn ich abends die Dorfbewohner, jeder sein Kostüm unter dem Arm, aus den Proben nach Hause zurückkehren sah, klopfte mir das Herz. Wie ich sie beneidete! Was hätte ich darum gegeben, Maria Magdalena darstellen zu können! Ich schloß mich in mein Zimmer ein, heimlich, als stünde ich im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, löste ich mein Haar, warf eine Draperie um und agierte jene tragische Gestalt, dichtend und darstellend zugleich.

      Welch ein Glück! Ich fühlte, wie das Blut mich heftiger durchströmte, wie meine Gestalt zu wachsen schien, mein Haupt sich in Begeisterung erhob. Angstvoll lauschte ich auf meine Stimme. Aber mein wachsamer Freund war in der Nähe, so daß ich sie dämpfen mußte. Ich konnte ihre Kraft und Gewalt nicht prüfen. Was war aus mir geworden? War dieses schwache, unbiegsame Organ dieselbe Stimme, die einst jede menschliche Empfindung auszudrücken vermochte? Verloren! Verloren!

      Ich warf mich hin, betäubt vor Schmerz, um mich wieder aufzuraffen, von neuem versuchend, von neuem verzweifelnd.

      Im Schloß befand sich ein Zimmer, das ich noch niemals betreten; doch wußte ich genau, was es barg: die Reliquien meines toten Glückes. Alle die Gewänder, in die ich mich einst gekleidet, alle die Kränze, welche jenen erhabenen Gestalten, die mir glichen, auf die Stirne gedrückt worden waren, befanden sich dort, verblassend und in Staub zerfallend. Manches Mal hatte ich vor der verschlossenen Tür gestanden und gedacht: Einst wirst du dich mir öffnen. Dann wird es um mich aufleben. Alle Toten werden wieder auferstehen, allen werde ich wieder volles, glühendes Dasein geben und dann, dann – –

      Jetzt schlich ich an meinem verschlossenen Heiligtum vorüber, ach, so hoffnungslos! Ich hatte alle meine Kraft nötig, um Fernow die Entdeckung, welche ich gemacht zu haben glaubte, zu verheimlichen. Dennoch schien er zu argwöhnen, zu ahnen. Weshalb hatte er mir sonst die Natur und die Arbeit gegeben? Zum Ersatz für meine Kunst. Aber wie – er konnte glauben, mir dafür Ersatz geben zu können? Kannte er mich so schlecht?

      Es gab Stunden, in denen ich mich voll Ekels von meinem leeren Dasein abwandle. Was sollte ich länger darin? Kein Lebendiger kann von sich sagen, daß er entsagt habe. Der Mensch entsagt erst, wenn er stirbt.

      Einmal schlich ich mich in die Proben.

      Der Platz, an dem die Passionsspiele aufgeführt wurden, lag unfern des Dorfes, in einer Schlucht, die sich unmittelbar dahinter auftat. Auf gewundenem Wege stieg man die Enge hinan. Von dem Dorf und dem ganzen Tal war bereits nach einigen Windungen nichts mehr zu sehen; wenige Schritte führten in eine Öde hinein, in welcher nichts gedieh als Alpenrosen. Von weitem gesehen, schienen purpurfarbige Teppiche von den Felsen herab zu hängen und über den Boden gebreitet zu sein. In mäßiger Höhe trat man in ein natürliches Felsen-Amphitheater. Hier war der Festplatz. Die eine Hälfte des Kreises nahm der Zuschauerraum, die andere die Bühne ein. Für diese gab der Berg selbst die Hinterwand, zu beiden Seiten schloß sich ein Fichtenwald an. Die Bäume selbst lieferten die Kulissen.

      Von niemand gesehen stand ich und blickte auf das seltsame Schauspiel herab. Es wurde gerade die Kreuzigung eingeübt. Von jeder Seite trat aus dem Walde ein Zug: der eine führte die beiden Verbrecher zur Richtstätte, der andere den Heiland. Römische Kriegsknechte und jüdische Priester bildeten die Begleitung, Volk lief nach. Dem Zuge mit dem Heiland folgten in einiger Entfernung die Jünger und die Frauen. Jedem der drei zum Tode Verurteilten war das Kreuz aufgeschnürt, Christus trug die Dornenkrone.

      Veronika sah als Maria Magdalena prachtvoll aus. Sie trug das faltenreiche Gewand, als sei es ihre gewöhnliche Kleidung. Mit Martha zusammen führte sie Maria. Allein ihre Haltung drückte ein solches Erleben der erhabenen Tragödie aus, daß ich kein Auge von ihr abzuwenden vermochte. Kaum konnte ich erwarten, daß sie reden würde.

      Die Züge mußten mehreremal abtreten