Wer seufzte so tief? – – Gewiß, lieber Freund. ich will nicht darüber nachdenken? aber wenn ich nur wüßte – –
Ich muß in meinem Kopf immer nach etwas Verklungenem suchen. Ist es eine Melodie, ist es ein Name? Ich möchte immer Briefe schreiben; aber an wen? Ich möchte immer etwas sagen; aber was? Kann man erleben und vergessen? Führt das Schicksal des Menschen eine so leichte, flüchtige Hand, daß seine Schriftzüge aus unserem Gedächtnis verschwinden könnten, als wären es die schwankenden Buchstaben eines Kindes, die von der Schiefertafel weggelöscht werden? Ach, es gibt so vieles, was Vernunft und Verstand nicht zu fassen vermögen. Vernunft und Verstand – sind dies so festgefügte Kräfte, daß kein Sturm sie erschüttern kann? Sind Vernunft und Verstand nicht zu zerstören und können wir sie wieder finden, wenn wir sie einmal verloren? Es gibt Irrenhäuser, also muß es Wahnsinnige geben, also auch Schicksale, die den Menschen um seine Vernunft bringen. Man hat Beispiele davon. Wenn ich mich nur auf eins besinnen könnte: wenn mir nur jemand die verklungene Melodie, den verklungenen Namen wieder sagte. Ich werde mich noch um den Verstand grübeln!
Um mich wird's lichter. Wenn ich die Augen schließe, so schaue ich bunten Glanz: der Tag bricht an! Wer hat mir von meinem Kopf die Schollen herabgewälzt? Soll ich wieder leben – – Ach, lieber Freund, bist du da? Wir wollen glücklich sein.
Aus dem Nebel tauchen allerlei Gestalten auf, allerlei Gesichter. Ach, meine Mutter!
Wer ist das weiße Antlitz? Wie das blonde Haar daran klebt, wie es auf den grauen Wellen dahintreibt! – – Jetzt taucht es hinab. Margarete. Margarete! – – Unbarmherziger Gott, Frank, du bist es gewesen?
Der Schleier zerreißt; jetzt weiß ich's. Meine Mutter ist tot, Anna hat sich ertränkt, Frank ist fort, ich bin wahnsinnig gewesen.
Elftes Kapitel
Neues Leben
Wie ein Kind lernte ich wieder leben, Fernow lehrte es mich. Seine Hand führte mich in das neue Dasein ein. Ich brauchte ihn nicht zu fragen: nicht wahr, du warst immer bei mir? Wie ich auch, ohne dah er mir's gesagt hatte, wußte, wo er immer bei mir gewesen: in jenem Hause, das meinen Namen trug, als dessen erster Bewohner ich eingezogen. Wie viele Jahre mag das her sein?
Allmählich erriet ich, wo ich mich befand. Wie die Bilder eines alten, lang ausgeträumten Traumes stieg es vor meinen inneren Augen auf. Ich sah zwei Menschen, die sich liebten, die mit ihrem Glück den Neid der Götter erregen wollten. Die Welt kennend, wollten sie aus der Welt flüchten. Ein einsames Alpental sollte die beiden Glücklichen aufnehmen. Dort wollten sie sich ein Haus bauen, dort wollten sie leben, wie es sterblichen Menschen nicht beschieden ist, wie es das Schicksal nicht zuläßt. Das Haus war gebaut worden – wo aber waren die beiden glücklichen Menschen?
Fernow konnte mich bald viel allein lassen. Er hatte sich eine Tätigkeit gebildet, die ganz war wie der Mann: aufopfernd, voller steter Selbstverleugnung. Weit und breit gab es keinen Arzt: denn die nächste Stadt lag entfernt und die Gegend ringsum war die ärmste des Landes. Der größte Teil des Tales bestand aus Sumpf und Moor. Das Felsengebirge trug kaum Weideplätze genug, um kümmerlich einige Herden zu ernähren. Die Felder, die in der Nähe des Stromes lagen, wurden regelmäßig alle Frühjahr durch Überschwemmungen verwüstet. In Hütten, die der langen, kalten Winter wegen Höhlen glichen, hausten die Menschen eng beieinander. Überall Mangel und Not, Krankheit und Armut; überall mußte geholfen werden.
Das war die Tätigkeit, die in überquellender Lebenskraft ein anderer für sich gewünscht hatte und welche Fernow ganz in demselben Sinn, in dem er in diesem Tal unser Haus gebaut, sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Die Straße, die das Tal durchschnitt und dieses mit dem nächsten größeren Orte verband, war sein erstes segensreiches Werk. Ablenkung und Abdämmung der vielen Wildwasser und des Flusses ward begonnen; für Moor und Sumpf Abzugskanäle und Drainierungen in Aussicht genommen.
So hoffte man gutes Ackerland und fruchtbare Wiesen zu gewinnen. Das Gebirge sollte von neuem mit Kiefern- und Tannenschlägen bepflanzt werden. Wohin man sah, regte sich neues Leben, welches in der Folge aus einer Wildnis einen Garten machen konnte, Hunderte von Menschen ernährend und zu einem edleren Dasein erziehend.
Fernow legte mir alle seine Pläne vor, besprach und beriet alles mit mir. Das waren glückliche Stunden! Wieder erhielt ich aus seiner Hand ein kostbares Geschenk: die Arbeit. Ich sollte ihm in allem helfen, in allem seine Gefährtin sein. Übrigens fand ich seine ganze große Tätigkeit bereits völlig organisiert. Er hatte zu seiner Hilfe tüchtige Leute berufen: Landwirte, Ingenieure, Förster. Für mich war ein bestimmter Teil vorbehalten worden: die Schule. Fernow hatte unter dem Volke ein merkwürdiges Talent zum Zeichnen und Schnitzen entdeckt und baute darauf die schönsten Hoffnungen. Beide Fähigkeiten sollten entwickelt und ausgebildet werden. Eine Mädchenschule sollte direkt unter meiner Aufsicht stehen und ihr im Schlosse selbst einige Zimmer eingeräumt werden. Die Mittel zu allen diesen Anstalten gewährte mir der Verkauf meines fürstlichen Witwensitzes. Wie dankbar war ich jetzt für Güter, die ich sonst so gering geschätzt.
Mit jedem Tage ward ich der Welt mehr und mehr zurückgegeben, mit jedem Tage erkannte ich mit tieferer Erschütterung, wie viel mir noch immer übriggeblieben. Man soll uns Frauen doch nicht arm nennen, wenn wir das verloren haben, was man gewöhnlich als unsern Lebenszweck bezeichnet, als unsern Reichtum, als jene hohe Aufgabe, die zu erfüllen wir geboren werden. Wie können wir darben, wo das Leben so reich ist, so reich an Tätigkeit. Und kann man sich die Tätigkeit ohne Glück denken? Ist nicht die Tätigkeit, die in dem Beruf der Frau liegt, so unerschöpflich, so weit und grenzenlos, daß der Mann, der überall der Gedanke ist, wo wir nur die Empfindung, uns um unsere Überfülle schöner und großer Lebensart beneiden könnte? Nicht wenn man uns unsere Liebe nimmt, sind wir Frauen verlorene Geschöpfe – wir werden das erst mit dem Verlust unserer Arbeit.
Allmählich lerne ich die Menschen kennen, die außer uns in der Einsamkeit hausen; zuerst freilich nur aus den Schilderungen des Freundes.
Da sind vor allem der Pfarrer und seine junge Schwester. Der geistliche Herr ist eines Bauern Sohn aus der Gegend. Als Gaisbub wuchs der Knabe in seinen wilden Bergen auf. Wochenlang sah er oft keinen Menschen. Seine Eltern wollten ihn auch des Winters nicht in die Schule schicken, weil er dem Vater helfen mußte, aus Fichtenholz rohe Kruzifixe und Heiligenbilder zu schnitzen. Jeden der guten Heiligen, denen der Knabe Gestalt und Antlitz verlieh, flehte er inbrünstig an, ihn lesen und schreiben lernen zu lassen. Eine Zeitlang legte sich der kleine Andreas jeden Abend in der festen Überzeugung zu Bett, daß er, wenn er am anderen Morgen aufwachte, werde lesen und schreiben können, wie der hochwürdige Herr Pfarrer selbst. Als das sicher erwartete Wunder sich niemals erfüllte, ward der Knabe vor Kummer fast krank. Er glaubte, die guten Heiligen seien ihm böse, weil er die ganze Zeit über, während er sie nachbildete, sich nach dem Sommer sehnte, nach seinen Bergen, seinen Ziegen, seiner Einsamkeit. Er versuchte, die Erzürnten dadurch zu versöhnen, daß er ihre Gewänder recht schön blau, rot und gelb anstrich; aber sie blieben nach wie vor taub für seine Bitten. Einmal verstieg sich ein vorwitziges Zicklein. Andreas suchte es und kletterte dem entlaufenen Tiere auf einer Felsenwand nach, von welcher weder er noch das Zicklein wieder herunter konnten. Niemand hörte sein verzweifeltes Rufen. Andreas kannte seine Berge. Er wußte, daß sich an diesem Ort selten eines Menschen Fuß verirrte, daß er hier, auch wenn man ihn suchte, nicht gefunden werden würde. Er wußte, daß er sterben mußte, verhungern, verschmachten. Während das Zicklein ganz vergnügt die saftigen Kräuter abweidete, die in den Felsspalten wucherten, bereitete sich der Knabe auf den Tod vor. Von der Welt wußte er nicht viel mehr, als daß es darin Gebirge, Ziegen und arme Gaisbuben gab, die gar zu gern Lesen und Schreiben gelernt hätten. Der letzte ungestillte heiße Wunsch genügte, um ihm den Abschied von der Welt schwer zu machen. Seine Eltern waren harte, kalte Menschen. Lieb hatte den einsamen Jungen nur sein kleines Schwesterchen, ein Kind mit schwarzen krausen Haaren und einem seinen, blassen Gesichtchen, darin die großen, dunklen Augen, bald