Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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      Daran dachte der verlassene Knabe und fing darüber selbst an, mit lauter Stimme zu beten. Es war der zweite Tag und die Kräfte des Kleinen waren erschöpft. Nur wenige Stunden hatte er schlafen können. Die ganze übrige Zeit kauerte er auf seiner schmalen Klippe über dem Abgrund und starrte über die Tiefe hinweg nach den Felsenhäuptern und grasigen Berglehnen hinüber, über die er mit seiner Ziegenherde so oft frei dahingeschritten war. Adler und Falken flogen an seinem Felsen vorüber, über ihm sangen die Bergfinken und er konnte kein Glied rühren. Oder wenn er es gewagt und nur einen Schritt vorwärts getan, so wäre er hinuntergestürzt. Dicht neben ihm wuchs alles voll Edelweiß. Das hatte es besser als er! Ein wunderliches Gefühl überkam den Knaben: der Mensch schien ihm weit weniger unter Gottes Hand zu stehen, als Tiere und Blumen. Das machte ihn unsäglich traurig. Nachts sah er den Sternen zu, wie sie strahlend über den grauen Massen auftauchten, gerade als sprängen sie aus dem Gestein hervor. Glanzvoll glitten sie die dunkle Himmelsbahn dahin und tauchten flimmernd wieder hinter den Alpen unter. Das verlassene Kind stellte sich vor, daß liebliche Engel dahinschwebten, jedes ein Kerzlein tragend, welches sie sich an dem großen Sonnenlicht angesteckt hatten, um damit dem lieben Herrgott zu Bette zu leuchten. Er freute sich darauf, daß er auch bald dazu gehören werde und suchte sich schon am Himmel den Weg aus, den er mit seinem Lichtlein ziehen wollte: an den hohen Sänten herauf, über seiner Ziegenweide und beim Tale, darin seine Eltern wohnten, wieder herunter. Andreas nahm sich vor, Gott recht herzlich zu bitten, die Menschen ebenso liebzuhaben wie Vögel und Blumen und allen Gaisbuben das Lesen und Schreiben lernen zu lassen. Darauf verfiel er in neue Ermattung. Das Zicklein, das alle Kräuter, zu denen es hingelangen konnte, abgefressen hatte, schmiegte sich angstvoll an seinen treuen Hirten an. Dieser träumte: er glitte Hand in Hand mit seiner kleinen Schwester, von weißen Flügeln getragen, pfeilschnell durch die Sterne dahin.

      Kalte Morgenluft erweckte den Knaben. Er konnte sich vor Schwäche kaum bewegen, aber es tat ihm nicht mehr weh. Noch vermochte er, wie er's jeden Morgen gewohnt war, hinzuknien, seine Hände zu falten und sein Gebet zu sagen, darin er die Heiligen bat, ihn und seine lieben Gaisen vor Gefahr zu behüten. Das Zicklein, das jämmerlich meckerte; umschloß er mit beiden Armen. So fanden ihn einige Stunden später, bewußtlos an der Felswand lehnend, die Männer, die zwei Tage nach dem Verlorenen gesucht.

      Dies Ereignis hatte große Folgen für den Knaben. Seine geängstigten Eltern hatten das Gelöbnis getan: wenn der Himmel ihnen den Sohn wiederschenke, diesen Gott und den Heiligen zum Opfer bringen zu wollen. So ward aus dem Hirtenbuben ein Priester: ein Mann, der nicht nur Gottes Wort las und predigte, sondern lebte. Er blieb ein Sohn der Alpen, dessen Herz krank war vor Heimweh, wenn er im Frühling den Donner der Lawinen und an fröhlichen Sommerabenden die Schalmeien der Hirtenknaben nicht hören konnte. Wild und öde wie sein Heimatstal war, liebte er es mit aller Leidenschaft eines starken Gemütes. Ebenso tief war seine Liebe zu seinem Volk gewurzelt, dessen rauhe Tugenden er kannte wie die Schönheit seiner Berge; dessen Dumpfheit und Unwissenheit, dessen Armut und Leiden ihn schmerzten und quälten, wie die rohen Naturgewalten, die so schrankenlos über das Tal die Herrschaft führten und für die er auch keine Abhilfe hatte. Er war stark im Mitleiden, das bei ihm zum Mithandeln wurde, sobald er nur konnte. Dies sagt, welchen Freund, welchen Helfer Fernow in ihm gefunden.

      Auch das muß ich noch über diesen Mann mitteilen.

      Der Hauch der freien Natur weht mit dem kräftigen Atemzug der Alpen durch seinen Gottesglauben, den der Knabe am Rande des Abgrundes – am Rande eines Grabes – rein und unentweiht empfangen hatte. Wenn er seiner kleinen Gemeinde predigt, tönt seine Stimme so mächtig, sind seine Worte so einfach und kräftig, als stünde er auf freier Bergeshöhe. Nächstenliebe ist erstes Gebot. Dafür wird er von dem bigotten, fanatisch erregten Volk, trotzdem er daraus hervorgegangen, mit Mißtrauen betrachtet.

      Seine Schwester Veronika muß nach Fernows Beschreibung ein eigentümliches Mädchen sein, mit etwas Verstecktem, Geheimnisvollem und Unergründlichem in ihrem Wesen. Dabei ist sie sehr schön, eine Gestalt, die wie eine Königin unter dem verkümmerten, armseligen Volke einherschreitet. Ihren Bruder liebt sie schwärmerisch. Sie ist streng katholisch. Fernow hat sie einmal laut beten hören und ist von dem Ton ihrer Stimme, von der unterdrückten Leidenschaft ihres Gebetes tief ergriffen worden. Unter den Talleuten lebt sie ohne Freundin, ohne Kameradin, in stolzer Abgeschlossenheit.

      Einen unheimlichen Eindruck macht auf mich eine dritte Gestalt, die das Pfarrhaus bewohnt. Es ist dies ein junger Jesuitenpater, welcher dem Pfarrer Andreas zur Beihilfe im Amt zugeteilt worden. Der Pater ist ein Fanatiker und gilt daher bei dem Volk mehr als der Geistliche selbst. Das Verhältnis der beiden Männer kann bei so verschiedener Sinnesart kein freundliches sein. Fernow fürchtet ein schlimmes Ende. Der asketische, leidenschaftliche Priester scheint über die freie, stolze Seele des Mädchens eine Gewalt auszuüben, gegen welche diese sich vergebens zu wehren sucht.

      Bald sollte ich diese drei Menschen persönlich kennen lernen.

      Ich weiß jetzt, daß Fernow mich für völlig geheilt hält; aber er wünscht die langsamste Gewöhnung an meine Umgebung und die Menschen. Da meine Teilnahme für beides mit jedem Tag mehr und mehr wachst, fällt mir dieses Zurückhalten schwer. Während des langen Schlafes, darin meine Seele gelegen, konnte so vieles in mir ausruhen; ja mir ist, als seien meine Kräfte gewachsen, als seien neue hinzugekommen. Ich muß an den Acker denken, der Jahre hindurch brach gelegen und den nun die Pflugschar für die neue Saat bestellen soll: wenn der Himmel seinen Segen gibt, kann die Ernte köstlich werden.

      Ganz wunderbar erscheint mir, wie der Freund wieder das Rechte für mich getroffen. Heute haben wir beide darüber gesprochen; es hat mich nicht einmal so sehr erregt, obgleich Fernow sich deswegen Sorge machte. Mit derselben Ruhe, mit der wir es uns sagten, will ich es hinschreiben.

      Frank ist fort und wird nicht wiederkommen. Ein Jahr nach der Katastrophe verließ er Europa mit demselben Schiffe, welches Fernow nach Australien bringen sollte. Als ein Pfadfinder für Nachkommende ist er dort in die Wildnis gedrungen. Ob er Wege gefunden und Wege gebahnt hat, wissen wir nicht. Ein Mensch wie er, muß Spuren zurücklassen. Freilich können es Spuren der Zerstörung sein. Er hat mehreremal an Fernow geschrieben und dieser an ihn: kurze Notizen mit Nachrichten über mich, die Fernow damals für unheilbar hielt. Auf sein letztes Schreiben erfolgte keine Antwort; beide halten wir ihn für tot. Unter welchen Riesenbäumen der Wildnis mag sein Grab liegen, welche Hand es ihm geschaufelt haben? Wenn ich sie kennte, würde ich die Welt durchwandern, um sie in der meinen zu halten und sie an meine Lippen zu drücken.

      Fernow versprach, mir später seine Briefe zu geben – später. Er ist tot! Wie kann er das, da ich ihn so ewig lebendig in meinem Herzen trage? Solange der Mensch geliebt wird, stirbt er nicht.

      Daß ich in diesem Hause so ganz in ihm lebe, das ist es, was ich als meine vollständige Heilung, als meine Rettung bezeichnen möchte. Und wiederum ist es Fernow, der sie vollbracht. Von seinen vielen gewagten Experimenten war dieses vielleicht das gewagteste: aber es ist ihm gelungen. In jedem Gegenstand besitze ich hier den Verlorenen lebendig; denn jeder Gegenstand bedeutet mir einen seiner lebendigen Gedanken. Der schöne, phantastische Bau ist durchaus nach seinen Plänen ausgeführt worden. Überall umgibt mich sein Geist, überall befinde ich mich in seiner Gegenwart. Wie durchschauert es mich, wenn ich allein schon an der Einrichtung meines Zimmers seine Liebe erkenne. Dieser dunkelfarbige Holzplafond, diese silbergrauen Bekleidungen der Wände, diese vornehme mattgelbe Farbe der Vorhänge und Möbelstoffe, das ist alles ganz in meinem – nein, ganz in seinem Sinne gedacht. Und nun gar die Kunstwerke, mit denen er mein liebes Gemach geschmückt! In der Mitte des Plafonds schwebt Raffaels Psyche zur Wiedervereinigung mit den Geliebten in den leuchtenden Himmel hinein. Wenn ich zu der wundersamen Gestalt aufblicke, so überkommt meine Seele etwas von Psychens stiller Verzückung: sie soll ihn wiedersehen, soll ihn besitzen in ewiger Vermählung. Glückselig, wer da glaubt; wer da glauben kann! Aber auch so ist es schön.

      An der einen Wand befindet sich eine Kopie von Guidos Aurora. Wie leicht und befreit wird mir zumute, wenn ich diese ewig heitern, unsterblichen Gestalten betrachte! Wie scheint es von den Lichtfluten, die das Haupt des Sonnenjünglings umwogen, in meine Seele zu dringen! Ein einziges Marmorbild leistet mir Gesellschaft: Donatellos heilige Cäcilie. Nur in der leichten Neigung ihres schönen Hauptes, nur