Ich hatte ihre zarte Gestalt umfaßt und sie ins Zimmer gezogen.
»Ist etwas vorgefallen?« rief ich, als ich ihr voll ins Gesicht sah.
»Nein, nein. Nur daß Fernow eine Nachricht erhalten hat, die ihn bald von uns fortruft. Vielleicht reist er heute noch.«
»Wir haben ihn diesen Sommer lang gehabt; es war eine glückliche Zeit.«
Die Mutter sah mich mit ihren klaren Augen groß an.
»Für ihn war es eine schwere Zeit.«
»Wie meinst du das?« Meine Stimme klang unsicher.
»Solltest du das nicht wissen? Solltest du das gar nicht einmal bemerkt haben?«
Ich mußte mich abwenden. Gott verzeih mir: ich hatte es wirklich nicht bemerkt! Erst jetzt begriff ich, in welchem Traum und Taumel ich gelebt. In mein junges Glück fiel der Schmerz wie Frost auf Frühlingsblüten. Ich nahm meine Rose ab und entblätterte sie.
»Wir wollen hinuntergehen,« ermahnte die Mutter und stand seufzend auf. »Fernow wird dir sonst einen ärztlichen Besuch machen.«
»Ja, komm hinunter! Aber ich möchte mir dieses Kleid wieder ausziehen. Es scheint ein trüber Tag zu werden.«
»Tu' das, nur eile dich, damit wir noch möglichst lange mit ihm zusammen sind.«
So legte ich denn den frohen Glanz wieder von mir.
Darauf suchte ich die beiden Freunde im Garten, wo sie in ernsthaften Gesprächen auf und ab gingen. Nur Fernow gab ich die Hand. Aber ich sagte ihm nicht, wie leid es mir tue, daß er uns verlassen müsse. Er teilte mir mit, daß er noch vor Abend abreisen werde, jedoch nicht von Frank begleitet sein wolle; dieser werde noch bleiben. Keiner von uns beiden entgegnete etwas darauf, aber ich dachte: So solltest du dich also doch schuldig fühlen müssen! Wo du geglaubt hast, den Blick frei zum Himmel erheben zu können, kannst du es nicht einmal zu den Augen deines Freundes?! Was dich über die Erde hinausträgt, was du als Gottheit in dir fühlst, solltest du verbergen, vielleicht gar verleugnen müssen?! Aber zuweilen ist Schuldgefühl eine Feigheit? Wie müßtest du vor dem Geliebten erröten, wenn er dich bei dieser Feigheit ertappen würde, er, der keiner Menschheit und keiner Gottheit das Recht zugesteht, einer großen Empfindung Schranken zu ziehen. Und es ist gewiß wahr: wo es sein höchstes Glück gilt, muß der Mensch rücksichtslos sein. Nicht immer ist Entsagung das Größeste.
Sein Blick traf mich. Ich senkte meine Augen in die seinen und unsere Seelen begegneten sich in einem Gedanken. Ruhig besprach ich dann mit Fernow in seiner Gegenwart manches, was mir auf dem Herzen lag. Später verließ uns Frank. Die letzten Stunden von Fernows Anwesenheit brachten wir zusammen im Zimmer der Mutter zu. Er lenkte das Gespräch auf seinen Freund.
»Ich habe ihn wieder von neuem lieben gelernt. Er ist eine große Natur, an der man sich versündigt, wenn man sie mit allgemeinem Maßstab mißt. Denn da man im Leben meist nur auf Kleinliches stößt, wird notwendigerweise auch unser Maßstab ein kleiner, nur zu oft ein kleinlicher. Tritt uns nun plötzlich ein ganzer, ein voller Mensch entgegen, so geschieht es leicht, daß wir verwirrt, daß wir mißtrauisch werden. Das Maß, unter das wir gewöhnlich die Menschen stellen, reicht hier nicht aus und ehe wir uns bequemen, ein größeres anzulegen, schreien wir lieber, daß wir uns etwas Maßlosem gegenüber befänden: der Mann muß ein gefährlicher Charakter sein, sei es auch nur deshalb, weil wir in Gefahr kommen, uns im Vergleich mit ihm als kleinliche Existenzen fühlen zu müssen. Nur die krasseste Philisterei kann von derartigen Naturen fordern, daß sie in denselben dumpfen Grenzen denken und handeln sollen, wie die liebe Spießbürgerei das tut.
Daß solche Menschen große Irrtümer begehen, ja, sich selbst einmal verlieren können, liegt in ihnen. Aber gewiß werden sie sich wiederfinden. »Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt.« Wenn man trivial sein und beim Faust von einer Tendenz reden will, so ist das Verirren und das sich Wiederzurechtfinden eines guten Menschen die Tendenz dieses höchsten Gedichtes. Er ist gerettet. Und wodurch ist er das? Durch die Liebe eines reinen Weibes.«
»Das durch ihn zugrunde geht,« murmelte die Mutter. »Ich bin eine alte Frau und kann es nicht begreifen: wie kann das ein edler Mensch sein, der sich nicht selbst zu retten vermag? Mir hat es immer gegraut vor solchen sogenannten faustischen Naturen, die stets über das Verderben anderer hinweg zu ihrem Glück gelangen, einem Glück, das sie dann schließlich nicht einmal finden. Für mich sind solche Naturen abscheuliche Egoisten, die wahren Verbrecher! Der Himmel möge verhüten, daß mein Kind einem solchen Faust in die Hände falle; denn mich würde man nicht überzeugen können, daß sie keine Schuldigen seien.«
Fernow war totenblaß geworden.
Bald darauf ging er. Ich begleitete ihn bis an die Stelle des Parkes, wo damals Frank aus dem Gebüsch getreten war. Hier sagte ich ihm Lebewohl und auf Wiedersehen.
Frank kam erst am nächsten Tag zurück. Während er fort war, hatte ich Gelegenheit genug, über die Mysterien der Liebe zu staunen. Sie überfällt das Herz und bevor dieses sie empfinden konnte, ist sie schon gewachsen, riesengroß, den Himmel in das Herz herabziehend und es mit einer ganzen Welt erfüllend.
Da saß ich nun und lauschte, ob ich nicht seinen Fußtritt, seine Stimme hörte. Dieser Fußtritt, diese Stimme, mir vor kurzem noch so fremd, waren mir plötzlich zu den Lauten geworden, die fortan meine Welt ausmachten, eine Welt, in der allein ich mein Schicksal zu erleben, mein Glück und Unglück zu suchen haben würde. Und da soll es keine Wunder geben? Sie erfüllen sich in jedem Menschenherzen, jedes Herz muß daran glauben! In der Nacht fühlte ich selbst in meinem Traum, daß er fort sei und daß er wiederkommen würde. Wenn ich erwachte, wehrte ich mich dagegen, wieder einzuschlafen, damit ich die überherrliche Wirklichkeit meines Glücks ja recht machtvoll empfände. So sammelte sich in jedem Augenblick ein Dasein, das zu schön war, um lange erlebt werden zu können.
Dann kam er zurück. Er brachte uns Fernows letzte Grüße. Wir sprachen den ganzen Abend von ihm; das heißt er und ich. Die Mutter hörte still zu, bis sie plötzlich sagte: »Dieser Mann ist durch eine Eigenschaft großartig, die sonst gewöhnlich nur wir Frauen zu besitzen pflegen.«
»Und welche ist das, liebe Mutter?«
»Seine Entsagungsfähigkeit.«
Nach einer Weile begann sie von neuem: »Du solltest Herrn Frank einmal das Gretchen vorspielen, das Fernow dir einstudiert hat.«
Sie sah ihn an, unwillkürlich tat das auch ich.
Was bedeutete das? Er war totenblaß geworden.
Meine Mutter stand gleich darauf auf.
»Ich gehe hinauf; bleibe du nur noch.«
»Nicht doch, Mutter. Ich gehe mit dir.«
»Bleib!« wiederholte sie fast hart. »Ich will allein sein.«
Sie ging. Da wir uns beide erhoben hatten, standen wir uns gegenüber.
Plötzlich warf er sich vor mir nieder, umfaßte mich, drückte sein Gesicht gegen meinen Leib, riß sich auf, stürzte hinaus.
Beim Tee trafen wir drei wieder zusammen.
»Frank wird fortgehen,« flüsterte ich der Mutter zu; aber er wird wiederkommen.
Wir waren beide fast heiter. Frank erzählte von einer Wanderung, die er nach seiner Rückkehr von Amerika durch die Schweiz und Tirol gemacht hatte. Er war auf derselben in ein wildes Tal gekommen, wo die Natur so großartig war, daß sie sein Gemüt fast zermalmte. Dennoch wollte er einmal dort leben. In seiner hinreißenden Weise schilderte er die Existenz in der Öde unter einem halbwilden Volk, das er, in stetem Kampf gegen eine feindselige Natur, der Kultur zuführen wollte.
Meine Blicke hingen an ihm, gewiß nicht minder strahlend als die seinen. Kaum, daß ich an mich zu halten vermochte, mich ihm nicht an die Brust zu werfen, nicht in einem Atem zu jauchzen und zu schluchzen: du bist groß, du bist gut! Und mich, du Großer und Guter, liebst du! Ich bin die Auserwählte.