»Wie, Sie kennen ihn?«
»Er ist mein Freund, der einzige, den ich jemals besaß.«
»Sie haben einen Freund – einen solchen Freund! Und das erfahre ich jetzt erst! Habe ich mir alle diese Jahre nur eingebildet, Ihre Freundin zu sein? Aber ich tue Ihnen schon wieder unrecht. Sie hatten natürlich Ihre triftigen Gründe, mir von diesem merkwürdigen Menschen nicht zu erzählen.«
»Allerdings hatte ich meine triftigen Gründe. Eine derartige, im höchsten Grade problematische, ja dämonische Natur hätte Sie damals nicht nur auf das heftigste beunruhigt, sondern wäre Ihnen auch völlig unverständlich, ja ungeheuerlich erschienen.«
»Sie haben recht, vollkommen recht – wie immer,« versetzte ich mit einem schweren Atemzuge. »Aber jetzt werden Sie mir von Ihrem › Freunde‹ erzählen.«
»Deshalb gab ich Ihnen das Manuskript zu lesen –
Wir studierten zusammen. Lange bevor ich ihn kennen lernte, hatte ich von ihm gehört. Während mein ganzes Empfinden sich gegen die durch seine Persönlichkeit ausgeübte Tyrannei auflehnte, flößte mir dieser Renaissancemensch zugleich die heftigste Bewunderung ein. Er gründete damals eine studentische Vereinigung, welche den kühnsten – den extremsten Freiheitsideen huldigte. Als ich diesem Bunde beitrat, sah ich ihn zum erstenmal. Obgleich ich mich darauf vorbereitet hatte, ihn zu hassen, verging bei seinem Anblick meine Empfindung gegen ihn wie eine Seifenblase. Seiner Schönheit und Liebenswürdigkeit gegenüber war kein Widerstand möglich. Wenn er die Locken seines jungen Jupiterhauptes schüttelte, wenn seine Augen im heiligen Zorne gegen irgendeine Erbärmlichkeit der Welt und des Lebens aufleuchteten, seinen Lippen hinreißende Beredsamkeit entströmte, so kam mir's oft vor: als sei aus einem vergangenen Geschlecht einer übriggeblieben, von einer Kraft und Gewalt, wie diese schwächlich gewordene Menschheit sie nicht mehr hervorbringt. Ein neuer Prometheus, trotzte er den alten Göttern, wollte er vom Himmel den Blitzstrahl der Wahrheit herabreißen, ihn unter die Menschen zu schleudern, womöglich die Welt in Brand zu stecken. Etwas Phrase mochte allerdings dabei sein und jedenfalls viel Sturm und Drang; dennoch war es ein wunderbarer Mensch.
Einer seiner Hauptsätze war: es gibt keine Leidenschaft mehr in der Welt. Nun, er führte durch sich selbst den Gegenbeweis. Es gibt in der Welt keine Persönlichkeit mehr, zürnte er und war doch selbst eine volle. Sein Hohn, seine Satire konnten schonungslos sein; doch richtete er sie nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst und das ohne jede Koketterie. Ich fand ihn oft über sich verzweifelnd: Ich bin angekränkelt wie sie alle, und sollte abgehauen werden wie ein fauler Baum. Wozu gibt es Äxte und Messer. Haut zu! Nein, laßt nur! Ein fauler Baum, der über einem Abgrund hängt, stürzt schließlich von selbst hinab. Eine Stunde darauf erhob er sein Haupt in unbegrenztem Selbstbewußtsein von neuem.
Demokrat, der er sein wollte, war er doch durch und durch Aristokrat. Als er jedoch in einer Zeit, wo Deutschland das Jahr 1813 noch nicht vergessen hatte, Napoleon öffentlich verherrlichte, konnte er sich nicht länger halten. Dazu kam, daß die Vereinigung von der Universität kassiert wurde; er selbst sollte vor Gericht gezogen werden. Ich überredete ihn zur Flucht.
Weil ich mich ihm nicht unterwarf, liebte er mich. Wir haben viel zusammen erlebt. Das Manuskript fand ich kürzlich unter den Erinnerungen jener Zeit. In müßigen Stunden hatte er die ungeheure Tragödie wie im Spiel hingeworfen und sich dann nicht mehr darum gekümmert.«
»Aber er lebt doch noch? Wo ist er?« »Als ich Sie kennen lernte, ging er gerade fort. Da in Europa nichts aus ihm geworden war, wollte er sehen, ob in Amerika etwas aus ihm werden würde. Vor etwa einem Jahre erhielt ich nach langem Schweigen wieder den ersten Brief. Er hat Tolles erlebt, scheint mir aber ganz der Alte geblieben zu sein.«
Er schwieg. Ich mußte ihn drängen, weiter zu sprechen.
»Sie müssen nämlich wissen, daß er vor kurzem zurückgekehrt ist. Ich bin ihm bis Hamburg entgegengereist.«
Ich unterdrückte einen Ausruf.
»Wie haben Sie ihn gefunden?«
»Wie ich erwartet hatte; unzermalmten Herzens, ein trotziger, herrlicher, despotischer Mensch, der gewiß nach wie vor von vielen gehaßt und – von vielen geliebt wird. Natürlich ist er unverheiratet, muß auch unverheiratet bleiben, da bei ihm eine Ehe gegen eine Frau sowohl, wie gegen sich selbst, ein Verbrechen sein würde. Er ist ein Mann, der ein Weib zuerst selig und dann unselig machen muß. Ein zweites, sogenanntes Glück, gibt es bei ihm nicht. – – Er hat die Absicht, mich in diesen Tagen hier aufzusuchen. Ich kann ihm jedoch abschreiben. Fast möchte ich es tun.«
»Warum?« fragte ich ihn und sah ihm fest ins Gesicht.
Er erwiderte nichts.
Nach einer Stunde stand ich in meinem Zimmer am geöffneten Fenster und sah das Morgenrot aufglühen. Den jungen Tag begrüßend schwangen sich die Lerchen auf.
»Erst selig, dann unselig, ein zweites gibt es bei ihm nicht.«
Da ging die Sonne auf. Licht und Glanz füllte die Welt. Ich grüßte die Himmelsflamme des Lebens.
Welche Schuld war es, die mich an diesem Tag verhinderte, Fernow frei ins Gesicht zu sehen. Auch vermied ich, mit ihm allein zu sein. Keiner berührte den Vorfall und das Gespräch der Nacht, so daß ich alles hätte für einen Traum nehmen können. Aber auf meinem Zimmer lag noch das Manuskript und kaum war es Abend geworden, zog ich mich zurück.
Fernow blieb bei der Mutter. Sicher wußte er, was ich jetzt tun würde.
Ich ließ die Vorhänge schließen und Lichter anzünden. Aber zu lesen begann ich erst, als ich wußte, daß im Schlosse alle zur Ruhe gegangen.
Von neuem versenkte ich mich in die dämonische Dichtung. Ich wollte mit Ruhe lesen: »objektiv«, wohl gar »kritisch«.
Was halfen mir Vorsätze! Von neuem faßte mich der Sturm und dieses Mal noch ungestümer, da ich jetzt nicht die Personen des Dramas, sondern den Dichter selbst zu mir reden hörte. Nur eine Frau kann eine solche Sophistin sein! Mit welchem Geschick verstand ich, gewisse Stellen der Dichtung fortzudisputieren und ihrem unzweideutigen Sinn einen anderen unterzuschieben! Mit welcher Kunst verstand ich zu idealisieren und zu apotheosieren! Was mich gestern noch empört hatte, suchte ich heute durch Ausdrücke wie »Byronisch«, »Faustisch« und so weiter, großartig zu machen. Doch großartig blieb er auch dort, wo er unverständlich erschien. Und dann – er hatte ja nicht für ein Publikum geschrieben, sondern nur für sich selbst; wie er selbst auch der Held war. – – Und war die Heldin nicht die Frau, die er gleichsam für sich geschaffen?! Wie geschah mir, als ich in dieser Gestalt Gedanken fand, die ich selber schon gefühlt. Welch ein Rausch ergriff mich! Ich sprach die Heldin und hörte entzückt, wie ich mich selbst sprach. Welche Töne standen mir plötzlich zu Gebot, welch ein übermächtiger Ausdruck! Als sie starb: den Giftbecher, den er ihr reichte, ausschlürfend, wie eine Bacchantin die Schale – wie fühlte ich da ihren Tod als der Wonnen letzte und höchste! Mit welcher mächtigen Überzeugung begriff ich, daß die selige Schuld: mit diesem Manne den Becher einer verbrecherischen Liebe in einem einzigen Zuge bis zur Neige geleert zu haben, ihr als den einzigen Trunk, den sie danach noch schlürfen durfte, den Giftpokal an die Lippen drücken mußte. Und doch warf ich mich außer mir hin, aufschreiend: »Sie ist tot!« Und lange lag ich in halber Besinnungslosigkeit da – –
Als Gretchen den Dämon fühlte, graute ihr's; als jene Heldin in dem Geliebten ihren Zerstörer ahnte, jauchzte sie ihm zu.
Wieder gab es eine schlaflose Nacht. Fernows Licht brannte nicht mehr; aber wenn auch – schwerlich, daß ich ihn diesmal aufgesucht hätte. Ich schlich mich zum Zimmer der Mutter, wie ich schon einmal getan. Aber heute wagte ich nicht, die Schwelle zu übertreten. Es scheuchte mich fort, ich floh hinaus, um mich draußen wie ein ruheloser Geist todmüde zu irren. Als der Morgen graute, lag ich in tiefster Ermattung angekleidet auf meinem Lager.
Und dennoch – obgleich tausend Stimmen in mir zu Mahnern erwachten, sprach ich das Wort nicht aus, das das Verhängnis von mir abgelenkt hätte. Mein Geist lag wie in Banden