Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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einer Residenz, deren eigentlicher Lenker der kunstsinnige Monarch in eigener Person war. Der Intendant kam selbst zu mir gereist, um mir im Namen seines Herrschers die bedeutendsten Vorschläge zu machen. Als auch Fernow mir zusprach, nahm ich, wie gesagt an. Im Herbst siedelten wir über.

      Da ich ja noch recht jung war, behielt ich mein altes Repertoir völlig bei. Wieder war die erste Rolle, in der ich auftrat, Gretchen. In dem Erfolg, den die Künstlerin errang, schien mir das Haus seine Teilnahme für die Frau versichern zu wollen. Nie vorher hatte man mich so gerühmt. Dennoch wollte mir bedünken, als sei mein Gretchen lange nicht mehr so gut gewesen. Die alte Harmlosigkeit schien mir genommen zu sein, die schöne Unbewußtheit. Ich hatte erlebt und gelitten, ich war reflektierend geworden. Ausführlich schrieb ich darüber an Fernow und bekam von ihm zur Antwort, was ich mir selbst gesagt.

      Ähnliches geschah mir mit allen alten Rollen. Meine Gestalten waren wie Blumen, die ja noch recht frisch sein mochten; aber mir erschienen sie doch nicht mehr so duftend, als ob sie eben erst gebrochen wären. Gewisse schlichte, innige Töne, die meinen Ruhm begründet, fand ich gar nicht mehr; desto gewaltiger gelang mir der Ausdruck des Leidenschaftlichen. So wandte ich mich denn sehr früh, viel zu früh, dem Tragischen zu.

      In mein Wesen war etwas gekommen, das meine Mutter erschreckte, mich namenlos quälte und das zuweilen, so sehr ich es auch zu unterdrücken versuchte, einen wilden Ausbruch nahm. Es lag über meiner Seele wie die Eisdecke über dem Bergstrom; die Flut schlägt dagegen. Sie will den kalten Zwang zersprengen, sie will sich entfesseln. Aber noch ist der Frühlingssonnenschein nicht gekommen, der die Bande schmilzt und die Ufer mit Blumen schmückt.

      In diesen Jahren ersparte ich mir mit jenem Strom des Lebens zu treiben, der mich in den Strudel und die Sturmflut der Gesellschaft hinausgerissen hätte. Ich blieb ruhig am sichern Ufer, ließ sie über mich murmeln und flüstern und die Achseln zucken, allein dem allerdings schmerzlichen Glück meiner Kunst lebend. Aber wie vermißte ich ihn, wie fehlte mir der Freund. Als ob ich nicht gewußt hatte, warum mich meine Mutter so traurig ansah, warum sie oft so tief schmerzlich aufseufzte. Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, gute Mutter, das geht nicht, das nicht! Ich sprach es nicht aus; aber sie verstand mich, wie ich sie verstand.

      Jeden Sommer brachten wir die großen Ferien auf dem Schlosse zu, jeden Sommer besuchte Fernow uns dort. Einmal brachte er mir ein Manuskript mit, das ich lesen sollte. Es war ein Trauerspiel. Als ich nach dem Dichter fragte, hieß es: ich würde später von ihm erfahren.

      Ich nahm die Blätter des Abends mit mir auf mein Zimmer; sie waren mit einer kühnen, stolzen Schrift beschrieben. Dem Datum nach war das Stück vor zehn Jahren verfaßt worden.

      Ich hatte mein Nachtkleid angelegt, war allein und begann zu lesen. Mehreremal wollte ich das Manuskript wegwerfen. Schließlich tat ich es auch. Aber ich nahm es doch wieder auf und las bis zu Ende.

      Mein Gesicht glühte, meine Pulse fieberten, mein Denken war wie zerstückt. Ich war begeistert und empört zugleich; nie war mir Ähnliches geschehen. Ich war außer mir.

      In meinem Zimmer schritt ich auf und ab, bis eine unverständliche Qual und ein ebensolch unverständliches Entzücken mich in einen Zustand von Bangigkeit versetzten, daß mir's schien, als brächen Wände und Decke über mir zusammen. Ich riß das Fenster auf. Mir war's, als ob ich mich retten müßte.

      Ich wollte die Mutter wecken; aber da sah ich in Fernows Zimmer noch Licht. Ich nahm den Leuchter und ging durch die lange Reihe stiller Gemächer zu ihm.

      »Wachen Sie noch?«

      Statt der Antwort öffnete er mir.

      »Was ist geschehen? Ist die Mutter krank geworden?«

      »Die Mutter schläft ruhig; aber ich, glaub' ich, bin krank.«

      »Sie haben das Manuskript gelesen?«

      »Können Sie noch fragen. Lassen Sie mich herein.«

      »Wollen wir nicht – –«

      »Hinausgehen. Nein, ich muß Licht um mich haben, ich muß Sie ansehen können.«

      Schweigend ließ er mich an sich vorüber und schloß die Tür. Wir standen uns gegenüber. Ich sah recht gut, wie bleich er war.

      »In welcher Absicht taten Sie mir das? Denn Sie hatten eine Absicht; Sie tun nichts ohne Absicht.«

      »Es ist eine geniale Dichtung.«

      »Es ist eine geniale Dichtung! Sehen Sie nicht, daß ich ganz zermalmt davon bin?«

      »Sie befinden sich allerdings in einem sonderbaren Zustand.«

      »Ich leide, also studieren Sie mich nicht! Oder ist es wieder eines Ihrer Experimente?«

      »Ich bitte Sie – – «

      »Ruhig zu sein? Hören Sie mich! Dieses dämonische Werk, das mich mit Abscheu und zugleich mit Bewunderung erfüllt, hat einen Sturm in mir aufgewühlt, der sich nicht so leicht wird beschwichtigen lassen. Sie müssen das gewußt haben, denn Sie kennen mich. Während ich las, jauchzte ich dem Dichter zu; aber zugleich schauderte mir vor ihm, warnte mich mein Geist vor ihm! Diese titanische Empfindung, diese prometheische Leidenschaft, diese verbrecherische Kühnheit in glühenden Bildern, gewaltigen Worten auszusprechen, was kaum zu denken gewagt werden darf – –. Wer ist es?«

      Fernow zauderte mit der Antwort.

      »Wer ist es?« drängte ich heftig. »Wenn er lebt, muß ich ihn kennen. Ich muß, sage ich Ihnen! Also reden Sie. Nein, reden Sie nicht, ich will es nicht wissen! Was fällt mir plötzlich ein?! Sie haben es doch nicht geschrieben? Was schwatzte ich! Das ist ja nicht möglich!«

      »Dieser Meinung bin ich auch. Aber in der Aufregung, in der Sie sich befinden, werden Sie kein Wort von mir zu hören bekommen.«

      »So beruhigen Sie mich. Geben Sie mir ein Gegengift.«

      »Das wird am besten ein kurzer Spaziergang sein.«

      Er legte mir ein Tuch um und führte mich hinaus. Wir gingen durch den Garten und Park; die kühle Nachtluft tat mir wirklich wohl. Der Sternenhimmel und das stille, feierliche Dunkel übten ihre alte Wirkung auf mich aus und bald dachte ich an meine leidenschaftliche Erregung wie an einen wüsten Traum zurück. Was hatte mich überkommen, wie konnte ich mich so fortreißen lassen?! Ich schämte mich.

      »Schelten Sie mich!« bat ich. »Ich fürchte, ich war wieder einmal ganz jenes unvernünftige Ding, das damals die Gräfin Orsina vor Ihnen raste. Anlage zur Tollheit soll ja in meinem Hirn stecken. Ich muß mich wirklich in acht nehmen.«

      »Das Genie hat Ihnen diesmal einen Streich gespielt« versetzte Fernow heiter. »Ich hätte daran denken sollen, daß man Zoll für Zoll Tragödin ist.«

      »Freilich! Unsereins ist ja von vornherein bei einer solchen Lektüre unzurechnungsfähig. Lesen wir doch nicht Worte, sondern erleben Tatsachen. Ich will Ihnen nur bekennen, daß ich die ganze Zeit über jene Heldin gewesen bin.«

      »Natürlich wäre es unmöglich, das Stück zu geben?«

      »Unmöglich! Welche Schauspielerin sollte das spielen? welches Publikum das anhören? Aber genial ist es; übergenial. Lösen Sie mir das Rätsel. Wie kommt es, daß ich von diesem Mann noch nichts erfahren habe, daß dieser Dichter nicht wie eine Sturmflut in unsere Literatur hereingebraust ist? Hat er noch mehr geschrieben? Ist etwas von ihm gedruckt? Wie kamen Sie zu dem Manuskript?«

      »Sie muten mir doch nicht zu, auf alle diese Fragen in einem Atem zu antworten?«

      »Also der Reihe nach. Zuerst und vor allem! Wer ist er?«

      »Ich denke, Sie wollen nichts mehr von ihm wissen? Es wäre vielleicht auch besser, ich schwiege.«

      »Befürchten Sie einen Rückfall? Diese Vorsicht kommt nach der Unvorsichtigkeit zu spät. Bekennen Sie also.«

      »Auf eigene Verantwortung?«

      »Die nehme ich auf mich.«

      »Also hören Sie: Der Dichter ist wie seine