Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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und Colja blieb zu Hause.

      Auch sonst verursachte Colja seiner Gebieterin seit kurzem viel Kummer. Colja hatte Geheimnisse vor ihr; Tanias getreuer Colja Geheimnisse! Wenn das möglich sein konnte, was in der Welt wäre dann nicht möglich gewesen?! Tania wußte es auch nicht. Aber Tania beobachtete Colja und Tania blieb dabei, daß es nichts gab, was unmöglich gewesen wäre; denn Colja hatte Geheimnisse. Jede Nacht – sie wußte es ganz genau – schlich er sich fort, kam erst gegen Morgen zurück, war den Tag über verschlafen und mürrisch und hatte selbst für Tanias Knaben nur Murren und Gebrumm. Es war ihm ganz gleich, ob das Kerlchen ihn tüchtig an seinem Zottelbart packte; das Kerlchen mochte daran zerren und reißen, so mächtig es konnte, Colja lachte nicht mehr darüber.

      Diese völlige Umwandlung ihres Getreuen kostete Tania viele Tränen. Colja sah es ruhig mit an, zwinkerte wohl mit den Augen, blieb jedoch der verdrießliche, mürrische Colja. Was sollte er tun? Er hätte es dem Täubchen ja doch nicht sagen können, daß er, Colja, sich seit kurzem auf das Nachdenken verlegt hatte; niemand würde es ihm geglaubt haben.

      O, es war ein kluger Colja! Keiner sagte ihm etwas, und er wußte alles. Er wußte, daß das große Grab bald fertig sei und daß nächstens Begräbnis war. Es konnten drei und fünf Tote – es konnten drei- und fünfhundert sein. Ferner wußte er, daß der Faden vermutlich nicht brennen würde, daß man vermutlich mit einer Lunte anzünden mußte und daß derjenige, der das tat, dabei umkam. Und dieser kluge Colja wußte, wer hinabsteigen wollte, um auf ein Zeichen die Fünfhundert in die Luft zu sprengen, die Fünfhundert und sich selbst. Aber Colja hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß ein anderer die Sache tun müßte. Und zwar mußte es einer sein, um dessen Tod dem Täubchen das Herz nicht brach. Sie sollte leben bleiben! Denn sie sollte über ihren Knaben lachen, wenn dieses Wunderkind seine Kapriolen aufführte. Sie sollte aber auch weinen um einen, der sie geliebt hatte und der für sie gestorben war, der sich aus der Welt geschlichen hatte, aus der wunder-, wunderschönen Welt, in welcher Tania und ihr Knabe zurückblieben. Sie sollte um ihn weinen, ihn dann vergessen und glücklich sein.

      Und dieser merkwürdige Colja grübelte noch etwas anderes aus. Er hatte gehört, daß jene sterben müßten, weil sie die »Feinde« des Volkes wären. Die Feinde des Volks – – Colja kam auf ganz wunderliche Gedanken. Wie, wenn man zuerst diejenigen aus der Welt schaffte, die sich die Freunde des Volks nannten? Was wollten sie eigentlich? Solange das russische Volk geknutet worden war, hatte es sich ganz wohl befunden; aber als man aufhörte, das Volk als »Seelen« zu betrachten, stand es da wie einer, der etwas verloren hatte und der nun suchte und suchte. Gar zu gern hätte Colja gewußt, was die Freunde des Volks dem Volke eigentlich zu schenken gedachten? Soviel Colja auch sann, darauf kam er nicht, daß die Freunde des Volks diesem mit Gewalt zu Seelen verhelfen wollten.

      Kurze Zeit vor Ostern vernahm man in Moskau, daß der Zar seine Reise angetreten hatte, mit einem großen Gefolge, unter dem auch Prinz Petrowsky genannt wurde. Über die näheren Dispositionen der kaiserlichen Reise verlautete nichts, ebensowenig wie die Route bezeichnet war, die der Zar durch sein Reich zu nehmen gedachte. Doch nahm man für sicher an, daß der Monarch zu Ostern in Moskau sein würde; wenigstens sollte am ersten Ostertag im Palast Petrowsky ein Fest stattfinden, zu welchem der ganze Adel der Stadt Einladungen erhielt. Es wurde erzählt, daß Anna Pawlowna den Palast vom Keller bis zum Boden hatte untersuchen lassen, daß man indessen nicht das geringste Verdächtige gefunden, daß jedoch das Haus trotzdem Tag und Nacht polizeilich bewacht würde.

      Auch sonst wurden die Nachforschungen nach nihilistischen Umtrieben mit neuem Eifer betrieben; um Bahnhof und Kreml wurden vollständige lebendige Ketten gezogen, der zehnte Mann in Moskau war ein Spion oder Geheimpolizist, wiederum fanden massenhaft Gefangennehmungen statt. Aber man entdeckte nichts.

      Auch nach Sascha und Wera wurde gefahndet, Wladimir mußte sich bei Tag und Nacht in der geheimen Druckerei verborgen halten, und Natalia entging einer schweren Haft lediglich durch das Zeugnis des Arztes, welcher die Erklärung abgab, daß ihr Leben nur noch nach Tagen zählte. Auf Tania fiel kein Verdacht, ebensowenig auf Colja; geradesogut hätte man einen Hofhund oder Blödsinnigen anarchistischer Umtriebe wegen verhaften können.

      So rückte Ostern heran. Der Zar sollte in der Tat an diesem Tage eintreffen; aber die Stunde seiner Ankunft ward so streng geheimgehalten, daß sogar die Spione des Exekutivkomitees sie nicht zu erfahren vermochten. Wahrscheinlich würde der Zar sich erst den Bewohnern Moskaus zeigen, wenn er nach dem Palast Petrowsky fuhr; denn es blieb dabei, daß das Fest in der heiligen Osternacht stattfinden sollte und daß Anna Pawlowna zu demselben den Kaiser erwartete.

      Nach langer, langer Finsternis dämmerte endlich der Morgen auf, der für das russische Volk den Tag bringen sollte. Wladimir begrüßte den ersten fahlen Lichtschein dieses Tages, welcher für ihn der letzte sein sollte, in tiefer Ergriffenheit. Er hatte die ganze Nacht über in der Druckerei gesessen und geschrieben; dann begab er sich ins Haus zu den Seinen.

      Fünfundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Als Tania erwachte, dachte sie: Ach, heute nacht ist ja Ostern! Da muß ich das ganze Haus reinigen und herrichten. Und Piroggen muß ich backen, von Fleisch und Fisch. Auch Tschi mit Grütze muß es geben – Colja muß heute nacht Tschi und Grütze haben! Wäre nur Wera da, daß sie mir helfen könnte. Ich habe solche Sehnsucht nach ihr. Sie hat ja noch nicht einmal den Knaben gesehen. Ist das möglich? Was sie wohl zu dem Kinde sagen würde? Sie würde auch staunen. Wo sie wohl sein mag, wo man sie wohl hingeschickt hat? Sie und Sascha. Ja, wenn Wera da wäre. Aber ich habe heute schrecklich viel zu tun. Ist das herrlich!

      Sie blieb indessen ruhig liegen. Der Knabe schlief noch fest, Tania vernahm seine tiefen Atemzüge; sich in die Höhe richtend lauschte sie darauf, mit einer Andacht, als ob sie die Engel singen hörte. Dann sank sie wieder in die Kissen zurück und träumte mit offenen Augen weiter.

      Vor einem Jahr war ich noch in Eskowo, Colja schenkte mir Osterpalmen und nachts ging ich in die Kirche; heute werde ich keine Osterblumen haben und um die heilige Mitternacht werde ich in keine Kirche gehen. Aber es ist doch alles besser geworden, viel, viel besser! Wladimir hat mich von Herzen lieb und ich habe meinen Knaben. Es ist wirklich wie ein Wunder! Die liebe Gottesmutter muß mir gnädig sein, wie könnte es sonst so wunderbar zugegangen sein? Ich kann recht glücklich sein; ich bin's auch. Wenn das mit der Sache nur nicht wäre, und wenn Colja nur keine Heimlichkeiten vor mir hätte. Es ist recht töricht von ihm.

      Nun stand sie auf, kniete vor dem erleuchteten Muttergottesbild und ihrem Kinde nieder, betete inbrünstig, öffnete dann den Fensterladen. Welch ein Morgen! dachte sie. Das scheint ja heute gar nicht Tag werden zu wollen. Sie kleidete sich vollends an, möglichst leise, um das Kind nicht zu wecken, und ging hinaus.

      Wie erstaunte sie, als sie in das Zimmer trat. Es war bereits warm drinnen, im Ofen prasselte das Feuer und der ganze Raum war festlich geschmückt: der Boden blank wie ein Tisch und dicht mit Buchs bestreut, gerade wie vor einem Jahr in Eskowo in der elterlichen Hütte! An den Fenstern waren hohe Wacholderzweige aufgestellt, auf einer mit einem gestickten Tuche bedeckten Bank stand ein großes funkelndes Heiligenbild, vor dem brannten zwei lange bunte Wachskerzen (die sicher geweiht waren); es war mit arabischem Harz geräuchert worden und auf Tanias Platz am Tisch befand sich ein Topf voll der schönsten, hellgrauen Osterpalmen.

      Tania stand, betrachtete alles und die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Das hatte Colja getan; ganz heimlich, mit unsäglicher Mühe hatte er alles vollbracht. Wie war es ihm nur möglich gewesen? In der Stadt Buchs und Wacholder und die herrlichen Osterpalmen! Die mußte er ja schon vor einem Monat zu ziehen begonnen haben; in warmem Wasser, hinter dem Ofen, in aller Verborgenheit. Das also waren seine Heimlichkeiten, derentwegen sie ihm gegrollt hatte; das also! Die ganze Nacht mußte er aufgeblieben sein, um, während sie schlief, das Zimmer zu putzen und auszuschmücken.

      »Colja! Colja!«

      Sie rief ihn wieder und wieder, mit lauter Stimme, gar nicht bedenkend, daß sie das Kind wecken könnte; sie suchte im ganzen Hause nach ihm; aber kein Colja