Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
Скачать книгу
war für beide, groß genug für Hunderte von ihresgleichen.

      Colja schaffte die Erde fort. Zum Teil tat er sie in leere Fässer, deren sich eine große Anzahl in den Kellern befanden und darin er die Erde feststampfte; zum Teil trug er sie hinaus auf den Hof, wo er in dem Bauschutt weite Gruben auswarf, die er mit Erde füllte und dann Kalk und zerbröckelte Ziegel darüber schüttete. Was Colja dachte, war lauter Glanz und Glorie; denn Colja dachte an Tania und ihren Sohn. So arbeiteten diese beiden Nacht für Nacht; tiefer und tiefer höhlte es sich vor Sascha aus. Nicht lange mehr und das Grab stand offen.

      Ob Boris Alexeiwitsch und Anna Pawlowna es ahnten? Sie lebten scheinbar nur mit dem Leben beschäftigt. Sich keinen Augenblick über die Gefahr, in der sie sich befanden, täuschend, machten sie doch keine Miene, sich derselben zu entziehen. Vielleicht wußten sie, daß sie von Spionen umgeben waren, daß jeder ihrer Schritte belauert wurde, daß jeder Versuch, Moskau zu verlassen und zu fliehen, das Zeichen zu ihrem Tode gegeben hätte. Vielleicht hofften sie, vergessen worden zu sein, oder daß man sich scheute, Hand an sie zu legen.

      Beiden war die »Sache« niemals als etwas anderes denn als eine Phrase erschienen und trotzdem hatten sie sich aufrichtig bemüht, die Redensart mit ernster Miene auszusprechen. Sie hatten die schöne Floskel mit dem Anschein im Munde geführt, als sprächen sie Überzeugungen aus; sie hatten sich in der Tat alle erdenkliche Mühe gegeben, an die Phrase zu glauben. Es war nicht ihre Schuld, wenn es ihnen nicht gelungen war, wenn sie erkennen mußten, daß sie, mit dem Volke sich vereinigend, gegen ihre eigenste und innerste Natur gehandelt hatten.

      Einmal wurde Wera von Boris Alexeiwitsch gesehen.

      Wera Iwanowna in einer Besserungsanstalt Er glaubte zu träumen.

      Vierundzwanzigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Jeden Abend sang Tania in dem Tingeltangel des Herrn Dimitri Sassinow Volkslieder und jeden Abend war der Saal überfüllt. Wladimirs Geliebte war der Liebling von ganz Moskau geworden, in ganz Moskau sang man die Lieder der Bäuerin Tania, auf den Gassen, in den Schenken, in den Salons. Es gehörte zum guten Ton, daß selbst Damen der besten Gesellschaft den Tempel des Herrn Sassinow besuchten, um die Bäuerin Tania singen zu hören. Ihr Auftreten bildete auf der Spezialitätenbühne das Ereignis des Abends; und Abend für Abend erschien sie wie beim ersten Mal. Sie grüßte nie, stand fast im Hintergrund, sah vor sich nieder; und wenn im Hause der Sturm sich gelegt hatte, begann sie zu singen, niemals sehr laut. Es herrschte während ihres Gesanges stets dieselbe Stille, welcher stets derselbe Aufruhr folgte; das Publikum konnte sich nicht satt hören, und Tania mußte singen und singen. Selbst die Pariser Chansonettensängerin und die Künstler und Künstlerinnen auf dem Trapez vermochten gegen die Bäuerin aus Eskowo nicht aufzukommen.

      Wladimir hielt Wort; er wich nicht von Tanias Seite. Nie wieder durfte sie in jenem abscheulichen Saal warten, bis an sie die Reihe kam. Herr Sassinow hatte für sie ein eigenes Kabinett herstellen lassen, in das nicht einmal diese moralische Persönlichkeit Zutritt erhielt. Zum erstenmal in seinem ereignisvollen Leben geschah es Herrn Sassinow, daß er nicht wußte, was er davon halten sollte? Die junge Person, die noch dazu die Geliebte eines verbummelten Studenten war, schien in der Tat tugendhaft zu sein, in der Praxis des Herrn Sassinow ein so unerhörter Fall, daß dieser erfahrene Spezialist sich einem Problem gegenüber befand, welches für seinen Verstand unlösbar war. Alle Aufforderungen, alles Drängen seiner zahlreichen Kunden, bei der delikaten Angelegenheit den freundlichen Vermittler zu machen, wies Herr Sassinow mit einem schwermütigen Kopfschütteln, einem Achselzucken, einem schmerzlichen Seufzer zurück.

      Als der Monat sich seinem Ende näherte, wollte Herr Sassinow mit Wladimir für den nächsten Monat abschließen – für eine ganze Reihe von Monaten! Doch Wladimir mochte nicht. Herr Sassinow bot das Doppelte und glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als Wladimir auch die doppelte Summe ablehnte. Herr Sassinow bot also das Dreifache und wurde, als Wladimir eisig blieb, in einer Weise grob, wie er es in seinem ganzen Leben noch nicht geworden war. Als selbst dieses nichts half, brach Herr Sassinow in Tränen aus. Das Brüderchen sollte ihn doch nicht ruinieren! Aber das Brüderchen schien nichts lieber zu tun.

      Wladimir befand sich, solange Tania auf der Bühne stand, jedesmal in einem solchen Grade von Erregung, als müßte er seinen Verstand verlieren und dieser Zustand steigerte sich von Abend zu Abend. Diese Schaustellung seiner Geliebten war ihm eine Prostituierung derselben. Von seinem Platz hinter den Kulissen aus konnte er sehen, wie sich hundert Augengläser auf Tania richteten und nicht von ihr abließen. Mit seiner zerrütteten Einbildungskraft stellte er sich vor, wie sie von allen diesen Blicken gemustert wurde, wie an ihr Glied für Glied von diesen Blicken gewissermaßen betastet und entkleidet wurde, bis sie zuletzt nackt und bloß in ihrem ganzen Liebreiz vor den Augen aller der Begehrlichen stand. Dann mußte er sich gewaltsam zurückhalten, daß er nicht vorstürzte um Tania von ihren Schändern fortzureißen. Wäre er nicht schon für sie bezahlt worden, er würde sie für keinen Preis länger haben auftreten lassen; hätte er die Mittel besessen, er würde Herrn Sassinow das Dreifache der empfangenen Summe vor die Füße geworfen und sie mit sich genommen, sie irgendwo versteckt, sie lebendig begraben haben.

      So kam es, daß Wladimir in seinem Haß gegen alles, was nicht »Volk« war, jedes Maß überschritt, und daß ihn schließlich eine wahrhaft neronische Vernichtungswut ergriff. Hatte er Tania, ohne ihr ein Wort zu gönnen, nach Hause gebracht, so lief er zu Sascha, um zu inspizieren, wie dieser vorwärts kam; oder er ruhte bei Natalia aus, sich gemeinsam mit dieser Fanatikerin an wahnsinnigen Vorstellungen von einer Vernichtung alles Bestehenden, an Visionen von Massenmorden berauschend. Oder er hielt mit dem Exekutivkomitee Versammlungen ab, die nachts auf freiem Felde, mitten auf der winterlichen Steppe stattfanden. Denn die Verschworenen glaubten nicht genug Sicherheitsmaßregeln treffen zu können, welche sie vermehrten und steigerten, je näher die Katastrophe heranrückte. Wenn Wladimir den Palast Anna Pawlownas betrachtete – und er umschlich ihn stundenlang – so sah er ihn bereits in rauchenden Trümmern liegen; wenn er die Prinzessin mit ihrem neuesten Liebhaber oder irgendeinem anderen von »jenen« erblickte, so mußte er denken, du gehörst gleichfalls zu denen, die wir zerreißen werden! Nur eins tat ihm leid, daß er nicht auch das Kunstinstitut des Herrn Sassinow in die Luft sprengen konnte, wenn alle jene es füllten, die seine Geliebte reizend fanden und ihren Gesängen Beifall zujauchzten.

      Während sein Geist unter diesen Gewalten stand, bereitete er sich vor, von Tania und ihrem Sohn zu scheiden, für ewig sich von diesen beiden zu trennen. Denn mehr und mehr schwand ihm die Hoffnung, bei dem Putsch mit dem Leben davonzukommen, in dem Fall wenigstens, daß die Mine mit einer Lunte entzündet werden mußte, was durchaus wahrscheinlich, was ziemlich gewiß war. Es schien ihm überflüssig, für eine andere Möglichkeit Sorge zu tragen. Sollte er indessen am Leben bleiben, so war alles ins Werk gesetzt, um mittels der Pässe der Fürstin ohne diese Dame ins Ausland zu fliehen.

      Wenn Wladimir gegen Morgen zurückkam, fand er immer weniger den Mut, sich ins Haus zu begeben. Er sah in dem Zimmer das Licht brennen, und er stand draußen in der grauen Dämmerung, bei grimmiger Kälte und starrte zu dem Lichtschein hinauf. Er wußte, drinnen saß Tania und wartete auf ihn; er bildete sich ein, ihre Stimme zu hören, und fühlte die Versuchung, ins Haus zu stürzen, sein Weib und seinen Knaben an die Brust zu reißen und mit ihnen leben zu bleiben.

      Aber mit einem Ächzen riß er sich vom Anblick des Lichtes los, schlich hinein in die Kammer, wo Natalia Arkadiewna ihn erwartete; den Terroristen die Terroristin, die so lange leben bleiben wollte, bis sie mit ihm sterben konnte, und die Tag und Stunde zählte, bis ihre toten Glieder sich mit den seinigen vereinigen würden.

      Als Colja erfuhr, wohin Wladimir sich Abend für Abend mit Tania begab und was dort geschah, ging er schweigend aus dem Zimmer und weinte bitterlich; weder zu Tania noch zu Sascha sprach er ein Wort von der Sache. Eines Abends mußte Wladimir notwendig das Komitee aufsuchen und sich daher entschließen, Tania einmal nicht zu begleiten. Statt seiner sollte Colja gehen und Natalia bei dem Kinde bleiben. Als Wladimir jedoch dem Knecht die Mitteilung machte, weigerte sich Colja entschieden zu gehorchen; Wladimir wurde wütend und schlug