Draußen waren nun alle in die beiden Wagen gestiegen. Ich zwängte mich mit in den Subaru, und los ging die Fahrt.
Tomo drehte die Musikanlage laut auf und rappte den Text irgendeiner japanischen Hip-Hop-Truppe mit. Die Passagen in seiner Landessprache kannte er auswendig, wohingegen er während der englischen nur im Rhythmus auf das Lenkrad trommelte und einzelne Wörter bellte, die er verstand, wie »Nigger« oder »Bitch«.
Als ich Tomo vor mehr als acht Monaten kennengelernt hatte, war er bei mir schnell in der Schublade sex- und musikbegeisterter Partylöwe gelandet, doch nach einem gemeinsamen Tag mit ihm und seiner jüngeren Schwester, einer Autistin, hatte ich erkannt, dass er auch über eine überraschend liebevolle und fürsorgliche Seite verfügte, obwohl er das natürlich nie zugegeben hätte. Deshalb zog ich ihn oft damit auf.
Jetzt wechselte er die CD, krähte »Dieser Nigger ist scheiße, Mann!«, und begann kurze Zeit später, irgendeinen frauenfeindlichen Text zu stottern.
Ich bemühte mich, ihn auszublenden, und schlug stattdessen die Landkarte der Verkäuferin vom Fahrkartenschalter auf. Ein Dreieckssymbol stand für den Fuji. Eingezeichnet waren sowohl Bus- und Bahnstrecken sowie Schnellstraßen, alle in einer jeweils anderen Farbe. Die fünf Seen in der Region hatte man genauso wie die anderen Sehenswürdigkeiten für Touristen sowohl auf Englisch als auch auf Japanisch beschriftet. Am Rand war das Gebiet rund um den See Saiko vergrößert worden, dessen Name wie »Psycho« auf Englisch ausgesprochen angegeben wurde. Diese Karte zeigte auch mehrere Wanderwege zwischen bestimmten Lavahöhlen, die im Zuge des letzten Ausbruchs des Fujis entstanden waren.
Aokigahara, der sich ganz in der Nähe befand, war bemerkenswerterweise nicht eingetragen.
Ich warf die Karte deshalb auf das geschmacklos mit Teppich überzogene Armaturenbrett und versuchte mir vorzustellen, was wir nun erleben würden. Wie viele Menschen begingen dort jährlich Suizid? Ein Dutzend? Mehr als zwanzig? Würden wir vielleicht halb im Laub verborgen einen Schädel finden? Oder eine Leiche, die an einem Baum hing? Bei dem letzten Gedanken – also den mit der Leiche, nicht mit dem Schädel – musste ich kurz innehalten. War ich wirklich darauf gefasst, so etwas dermaßen Abgründiges zu sehen?
Schlagartig kam mir mein älterer Bruder Gary in seinem glänzend hellbraunen Sarg in den Sinn, die Haare gewaschen und gekämmt mit Watte in den Ohren und der Nase. Seine Lippen waren mit Wachs verschlossen gewesen, die Augen verklebt und die Schminke in seinem Gesicht viel zu dick aufgetragen und hart geworden. Die rote Krawatte hatten sie ihm sorgfältig um den Hals geknotet.
Während ich diese letzten Eindrücke von ihm hastig blinzelnd verdrängte, rutschte ich nervös auf dem Sitz herum und fokussierte die Bäume, die draußen vorbeiflogen.
Ungefähr zwanzig Minuten später verließ Honda den Highway mit seinem Minivan auf eine Landstraße und wir folgten ihm. Dichte Waldflächen erstreckten sich nun zu beiden Seiten. Er bog auf einen fast leeren Parkplatz ein. Tomo ließ zwei Lücken zwischen den beiden Fahrzeugen frei, als er stehen blieb. Ich stieg aus und schlug die Tür zu, was in der umgebenden Stille seltsam laut wirkte. Es knallte noch mehrere Male, als die anderen ausstiegen und die Türen ins Schloss fallen ließen.
»Da wären wir!«, begann Ben. Sein zartes Gesicht verlieh ihm etwas nahezu Feminines. Er drückte Nina kurz an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann legte er einen Arm um Tomo, der neben ihm stand, und küsste auch ihn.
»Hey, Mann, ich bin nicht schwul, klar?«, beschwerte sich der Japaner aufgeregt und stieß ihn von sich.
Bens Begeisterung war jedoch so ansteckend, dass jeder lächeln oder kichern musste. Sie markierte einen erfreulichen Gegensatz zu dem bedeckten Himmel und dem tristen und düsteren Parkplatz.
Tomo, der rot geworden war, klappte nun den Kofferraum des Subarus auf. Ich nahm Mels dunkelgrünen Osprey-Rucksack heraus, der auf einem Wagenheber und einem Kreuzschlüssel lag, und half ihr dabei, ihn anzuziehen. Danach warf ich Tomo seine Tasche zu, nahm mir meine über die Schulter und schloss die Klappe wieder.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst, Honda?«, fragte ich ein letztes Mal.
»Dieser Wald, der ist nichts für mich.« Er schaute wiederholt beklommen zur Baumgrenze hinüber. »Tagsüber vielleicht noch, aber nachts?« Wieder schüttelte er vehement den Kopf.
Nachdem wir sieben uns von ihm verabschiedet hatten – entweder per Händedruck oder indem wir uns ungelenk verbeugten, was nur die wenigsten Ausländer gut können –, gingen wir zu dem einzigen Weg, der in den Wald hineinführte. Am Rande stand ein neuerer Mitsubishi Outlander, dessen weißer Lack teilweise mit Sand oder Erde verdreckt war. Zahllose trockene Laubblätter steckten in der Rille zwischen Windschutzscheibe und Motorhaube.
»Findet ihr nicht auch, dass diese Kiste so aussieht, als ob sie schon ewig hier stehen würde?«, fragte Mel beklommen.
»Ohne Scheiß, du hast recht«, pflichtete ihr John Scott bei. Er schaute durch ein Fenster in den Wagen hinein. »Hey, zieht euch das mal rein.«
Wir scharten uns rings um ihn herum und warfen einen Blick hinein. Die Rücksitze waren umgeklappt, und darauf lagen eine Luftpumpe, ein Erste-Hilfe-Set sowie ein Ersatzfahrradreifen. Der Stauraum war fast gänzlich mit einer schwarzen Plane abgedeckt. Diese wölbte sich an zwei Stellen dicht nebeneinander verdächtig.
John zog daraufhin an der hinteren Tür, die erstaunlicherweise nicht verschlossen war. Diebstahl gab es in Japan praktisch überhaupt nicht.
»Was machst du da?«, fragte ich alarmiert.
»Nachsehen, was unter der Plane liegt.«
»In einem fremden Auto hast du nichts verloren!«
»Ich denke, wir sind uns alle dahin gehend einig, dass der Besitzer bestimmt nicht mehr zurückkommen wird.«
»Vielleicht campt er ja auch einfach nur.«
»Das tut er dann aber schon verflucht lange. Schau dir doch nur mal das Laub an.«
»Ich will auch was sehen«, klagte Ben.
Tomo stimmte mit ein: »Ich auch.«
Als John Scott die Plane hochhob, lagen darunter ein dunkelblauer Anzug, ein Paar feine schwarze Schuhe und ein rechteckiger Aktenkoffer aus Leder.
Wir starrten eine gewisse Zeit lang auf diese Habseligkeiten eines Unbekannten, ohne dass jemand etwas sagte. Es war ein beunruhigender Anblick, und ich glaube nicht, dass sich irgendjemand von uns einen Reim darauf zu machen wusste.
»Gehen wir weiter«, drängte Mel, indem sie einen anderen Tonfall anschlug. Sie hörte sich jetzt viel gereizter an als zuvor.
John schickte sich an, die Tür wieder zu schließen.
»Leg die Plane zurück«, verlangte ich.
»Wieso denn?«
»Weil die Sachen bestimmt aus einem guten Grund zugedeckt worden sind. Der Besitzer wollte es offenbar so.«
»Und er könnte doch noch zurückkommen«, ergänzte Mel.
Ich wusste, dass sie eigentlich selbst nicht damit rechnete – niemand von uns tat das, äußerte dies aber nicht. John Scott legte die Plane also wieder zurück und machte die Tür zu, woraufhin wir weiter auf den Waldweg zugingen. Als ich mich umdrehte, wunderte ich mich, weil Honda noch immer neben seinem Van stand und uns hinterherschaute. Ich hob meine Hand, um noch einmal Abschied zu nehmen, und er erwiderte die Geste.
Dann folgte ich den anderen in den Selbstmordwald.
Kapitel 3
Aokigahara Jukai unterschied sich vollkommen von allen Wäldern, die ich bis dahin betreten hatte. Die Vielfalt der immergrünen Nadelhölzer und anderen Bäume war