4.2 Materielle Voraussetzung der Enteignung
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Die Enteignung muss dem Wohl der Allgemeinheit nicht nur dienen, sondern zum Wohl der Allgemeinheit für ein bestimmtes öffentliches Vorhaben unumgänglich sein[21]. Das ist sie nicht, wenn andere Wege, die den Eigentümer weniger beeinträchtigen, genauso zum erwünschten Ziel führen, denn Art. 14 III GG verbietet jedes Übermaß an hoheitlichen Eingriffen. Die Enteignung ist unzulässig, wenn eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung: eine Übereignung, Bestellung einer Dienstbarkeit oder schuldrechtliche Gestattung den gleichen Dienst am Gemeinwohl leistet[22].
Schon gar nicht rechtfertigt schiere Zweckmäßigkeit eine Enteignung. Die Gemeinde darf ein gepachtetes Gelände nicht enteignen, um sich vom lästigen Pachtvertrag zu befreien; die gute Absicht, darauf einen Sportplatz anzulegen, rechtfertigt die böse Tat nicht[23].
4.3 Formelle Voraussetzung der Enteignung
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Nach Art. 14 III GG ist die Enteignung ein rechtmäßiger hoheitlicher Eingriff in privates Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit und auf Grund eines Gesetzes, das auch Art und Maß der Entschädigung regelt. Nimmt man diese Verfassungsbestimmung beim Wort, gibt es nur eine rechtmäßige, keine rechtswidrige Enteignung. Rechtsmäßig aber ist eine Enteignung nur, wenn sie alle Voraussetzungen des Art. 14 III 1-3 GG erfüllt[24].
Nun darf der Gesetzgeber die Grenze zwischen Inhaltsbestimmung und Enteignung nicht selbst ziehen, das Eigentum nicht nach Belieben entschädigungslos verkürzen oder gar aushöhlen, sondern muss dem Eigentümer ein Minimum an Nutzungs- und Verwertungsmöglichkeit lassen, denn die Substanz des Eigentums ist nach Art. 14 I GG garantiert[25]. In diesen harten Kern des Eigentums darf der Gesetzgeber nur unter den strengen materiellen und formellen Voraussetzungen des Art. 14 III GG eingreifen. Nur die verfassungsrechtlich zulässige Enteignung ersetzt die Bestandsgarantie des Art. 14 I GG durch die Wertersatzgarantie des Art. 14 III GG[26].
Wenn aber schon die rechtmäßige Enteignung zu entschädigen ist, muss dann nicht erst recht der rechtswidrige hoheitliche Eingriff in privates Eigentum entschädigt werden, wenn er den Eigentümer genauso schwer trifft wie eine Enteignung? Der BGH hat die Frage bejaht und dafür den „enteignungsgleichen Eingriff“ erfunden[27].
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Nach Meinung des BVerfG hingegen ist nur die verfassungsrechtlich zulässige Enteignung zu entschädigen, während es gegen rechtswidrige Eingriffe in privates Eigentum keine Anspruchsgrundlage für eine Entschädigung gibt[28]. Der Eigentümer muss den rechtswidrigen Eingriff mit der Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht bekämpfen. Der verwaltungsgerichtliche Primärschutz nach § 42 VwGO geht dem Entschädigungsverlangen des Eigentümers vor[29].
Die Enteignungsentschädigung ist kein Schadensersatz, sondern ein Wertausgleich[30]. Zu ersetzen ist der gemeine Wert des enteigneten Grundstücks oder sonstigen Rechts[31].
4.4 Enteignungsgleicher Eingriff
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Der BGH ist der Meinung, dass auch der rechtswidrige hoheitliche Eingriff in privates Eigentum wie eine Enteignung zu entschädigen sei, wenn er nur schwer genug wiege (RN 349 ff.). Eine gesetzliche Anspruchsgrundlage gibt es dafür freilich nicht. Art. 14 III 3 GG selbst begründet keine Entschädigungspflicht, sondern befiehlt nur dem Gesetzgeber, zusammen mit der Enteignung auch die Entschädigung zu regeln. Anspruchsbegründend ist letztlich der Aufopferungsgedanke, der heute noch rechtmäßige hoheitliche Eingriffe in die Gesundheit, insbesondere Impfschäden, entschädigt (RN 350).
Der rechtswidrige hoheitliche Eingriff in privates Eigentum wirkt dann enteignungsgleich, wenn er dem Eigentümer unter Verletzung des Gleichheitssatzes ein Sonderopfer auferlegt, das so schwer wiegt wie eine Enteignung und den Eigentümer unerträglich hart trifft[32]. Dies gilt auch für nichtige Rechtsverordnungen und Satzungen[33], dagegen nicht für verfassungswidrige Gesetze[34].
Der Eigentümer tut indes gut daran, den enteignungsgleichen Eingriff, wenn es sich um einen Verwaltungsakt handelt, vor dem Verwaltungsgericht anzufechten, wenn er sein Eigentum nicht entschädigungslos verlieren will[35].
4.5 Enteignender Eingriff
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Der BGH hat auch den wenig aussagekräftigen Begriff des enteignenden Eingriffs geprägt und versteht darunter die ungewollte Nebenfolge einer rechtmäßigen hoheitlichen Maßnahme, die dem Eigentümer ein unerträglich schweres Sonderopfer auferlegt und deshalb zu entschädigen sei (RN 349).
Beispiele
- | Lärmbelästigung durch den Verkehr auf öffentlichen Straßen (BGH 91, 20; 94, 373; 97, 114; NJW 80, 582) oder vom nahen Flugplatz (BGH NJW 86, 2423); |
- | Gestank aus einer öffentlichen Kläranlage (BGH 91, 20; NJW 76, 1204); |
- | nicht die Beschädigung eines nach § 94 StPO beschlagnahmten und in einer verschlossenen Halle verwahrten PKW durch Dritte, die in die Halle eingebrochen sind (BGH 100, 335: keine staatliche Gefährdungshaftung, kein innerer Zusammenhang mit der Beschlagnahme). |
1. Das gesetzliche System
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Vom Eigentum handelt das BGB im 3. Abschnitt des 3. Buches „Sachenrecht“. Dieser Abschnitt umfasst fünf Titel mit den §§ 903-1011:
1. Titel: | Inhalt des Eigentums (§§ 903-924); |
2. Titel: | Erwerb und Verlust des Eigentums an Grundstücken (§§ 925-928); |
3. Titel: | Erwerb und Verlust des Eigentums an beweglichen Sachen (§§ 929-984); |
4. Titel: | Ansprüche aus dem Eigentum (§§ 985-1007); |
5. Titel: | Miteigentum (§§ 1008-1011). |
Es fällt auf, dass das Gesetz nur im 2. und 3. Titel, die den Erwerb und Verlust des Eigentums regeln, deutlich zwischen Grundstücken und beweglichen Sachen unterscheidet, während die anderen Titel anscheinend für alle Sachen gelten. Bei näherem Zusehen aber stellt man fest, dass auch der 1. Titel mit den