Dagegen löst – was vielfach verkannt wird, aber nie verkannt werden darf – die allgemeine Hilfspflicht nach § 323c Abs. 1 StGB keine Garantenpflicht des Arztes aus: Aus der Verletzung der für jedermann in § 323c Abs. 1 StGB statuierten allgemeinen Nothilfepflicht kann keine Haftung des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen abgeleitet werden.[350] Die Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts setzt vielmehr eine „besondere Pflichtenstellung“ voraus, „die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht“.[351]
Auch die Übernahme der ärztlichen Beratung nach § 219 StGB begründet keine Garantenstellung für die ärztliche Behandlung und deren Folgen, sondern „erschöpft sich in der Aufklärung der Schwangeren über alle Gesichtspunkte, die aus ärztlicher Sicht für das Austragen oder Abbrechen der Schwangerschaft von Bedeutung sind“[352].
Die aus der Garantenstellung sich ergebenden Garantenpflichten enden erst mit der vollständigen Erfüllung der übernommenen Schutzaufgabe. Auch wenn Dritte die Sicherungs- oder Schutzpflichten mitübernehmen, bleibt die Garantenstellung des bisherigen Garanten davon unberührt, doch muss dieser die Gefahr nicht mehr notwendigerweise eigenhändig beseitigen, sondern kann die Erledigung der Schutzaufgabe ganz oder arbeitsteilig dem Dritten überlassen.[353]
d) Die tatbestandliche Pflichtverletzung
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Nicht zu übersehen ist bei alledem, dass die Feststellung einer Garantenstellung als solche für den Tatbestand des § 222 StGB oder des § 229 StGB nicht genügt. Zu bestimmen ist vielmehr jeweils, welche berechtigten Erwartungen sich an den Arzt jeweils richten ließen, um damit die Reichweite der Garantenstellung zu klären.[354] Gerade dies muss auch bei der Unterlassung in Anknüpfung an die Maßstäbe geprüft werden, die zum Facharztstandard z.B. unter Einschluss etwa ökonomischer und individueller Faktoren bereits dargestellt worden sind (siehe Rn. 110 ff.). Beispielhaft gesprochen ist auch bei der Unterlassung nicht etwa die mögliche Differenzierung nach unterschiedlichen Einrichtungen („Universitätsklinikum oder Landarztpraxis“) oder die Bedeutung der Arbeitsteilung zu übersehen (siehe Rn. 431 ff.).
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Plastisch zeigt sich dies im Fall Niels H. In ihm ist zu klären, welche Maßnahmen etwa eine stellvertretende Stationsleiterin unternehmen musste, um die Gefahren abzuwenden, die für die zur Betreuung übernommenen Patienten vom Pfleger Niels H. ausgingen. Genügte es, dass die Ärztin alle verfügbaren Informationen an ihren Vorgesetzen weitergab, wenn dieser und die Einrichtung im Übrigen im Anschluss nichts Entscheidendes zur Gefahreindämmung unternehmen?[355] In einem solchen Fall ist der Pflichteninhalt der Garantenstellung und insoweit die (begrenzte) Reichweite einer möglichen Eskalationspflicht zunächst lebensnah konkret herzuleiten.
5. Die typischen Fehlerquellen: Behandlungsfehler, Organisationsfehler, Aufklärungsfehler
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Innerhalb der ärztlichen Sorgfaltspflichtverstöße lassen sich drei typische Fehlerquellen unterscheiden. Diese liegen einmal bei der eigentlichen Krankenbehandlung selbst, also bei der Voruntersuchung, Anamnese, Diagnose, Indikationsstellung, Medikation, Wahl und Durchführung des ärztlichen Eingriffs sowie den postoperativen Maßnahmen. Eine zweite Fehlerquelle betrifft die Patientenaufklärung in ihren verschiedenen Ausformungen. Die dritte Fehlerquelle schließlich ist die Organisation des Behandlungsablaufs, d.h. die Regelung der personellen und sachlichen (strukturellen) Voraussetzungen für die Betreuung des Patienten, insbesondere im arbeitsteiligen Zusammenwirken mehrerer Ärzte oder von Ärzten mit nichtärztlichem Hilfspersonal.
Die aus diesen Risikobereichen resultierenden Sorgfaltspflichtverstöße sind in einer groben Einteilung
1. | Behandlungsfehler im engeren Sinne; |
2. | Organisationsfehler (z.B. Koordinations-, Kommunikationsmängel, Delegations-, Überwachungs-, Instruktions-, Informationsfehler, personelle Unterbesetzung, Einsatz übermüdeter Ärzte, mangelhafte Geräteausstattung, fehlende Vorsorge gegen Infektionsgefahren, mangelnde Schutzmaßnahmen gegen selbstschädigende Handlungen der Patienten).[356] Letztere lassen sich auch als Behandlungsfehler im weiteren Sinne einordnen, da z.B. Koordinationsdefizite oder mangelnde Überwachung infolge fehlerhafter Delegation bzw. Personalknappheit unmittelbar auf die Krankenbehandlung selbst durchschlagen; |
3. | Aufklärungsfehler. |
Anmerkungen
Wie hier etwa auch m.w.N. Schönke/Schröder/Eisele Vor §§ 13 ff. Rn. 71 f. 90 ff.: Kausalprinzip als notwendige Bedingung der objektiven Zurechnung.
BGHSt 49, 1 ff.; 39, 195, 197; 45, 270, 294 f.; BGH NJW 2010, 1087, 1090 f. m. Anm. Kühl.; zur allg. Anerkennung in der Praxis m.w.N. Matt/Renzikowski/Renzikowski Vor § 13 Rn. 75 f.
OLG Hamm ZMGR 2013, 97.
Hierfür verlangen die Gerichte nicht stets die konkrete Kenntnis des kausalitätsvermittelnden Naturgesetzes; sie halten ggf. bereits die volle Überzeugung für ausreichend, dass eine Folge nur auf einem bestimmten Verhalten beruhen kann, siehe BGHSt 37, 106, 112 ff. m. Anm. Kuhlen NStZ 1990, 566; Samson StV 1991, 182; Beulke/Bachmann JuS 1992, 737. Im Lederspray-Fall ging es um die Frage der Schadensursächlichkeit eines Ledersprays für zum Teil erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, die die Verbraucher nach dem Gebrauch des Ledersprays erlitten hatten. Noch weitergehend im sog. Holzschutzmittelfall BGHSt 41, 206, 216 ff.; näher dazu Wohlers JuS 1995, 1019 ff.
Hierzu m.w.N. Roxin AT I § 11 Rn. 1 ff.; selbst abl. Matt/Renzikowski/Renzikowski Vor § 13 Rn. 75 ff., 98 ff.
BGHSt 2, 20, 24; BGH NJW 1993, 1723.
S. den Urteilsbericht von Horschitz Hebammen Info 5/2004, 10 ff.
BGH NJW 1973, 1723; BGHSt 33, 322; BGH NStZ 2001, 29, 30.
BGH NJW 1986, 2367.