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Die Fortbildungspflicht des Arztes umfasst nicht nur die Gewährleistung der gebotenen fachlichen Qualifikation, sondern auch die Kenntnis und Beachtung der „für die Berufsausübung geltenden Vorschriften“,[266] also der jeweils relevanten Rechtsnormen. Ausdrücklich betonte der BGH in dem berühmten „Kemptener-Sterbehilfe-Fall“[267] im Hinblick auf ein mögliches Wissensdefizit des Arztes: „Sein Beruf bringt es mit sich, dass er sich – u.a. im Rahmen ärztlicher Fortbildung – auch mit einschlägigen juristischen Fragestellungen zu beschäftigen hat“. Dazu gehört als wesentliche Rechtspflicht die Aufklärung des Patienten „im persönlichen Gespräch insbesondere vor operativen Eingriffen“ über „Wesen, Bedeutung und Tragweite der Behandlung einschließlich Behandlungsalternativen und die mit ihnen verbundenen Risiken“.[268]
a) Sachfragen und Rechtsfragen
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Wenngleich die Frage, ob ein Arzt im konkreten Fall seine ihm dem Patienten gegenüber obliegende Sorgfaltspflicht erfüllt hat, eine vom Staatsanwalt oder Richter zu beurteilende Rechtsfrage ist,[269] kann sie ohne besondere Fachkenntnisse und damit ohne eingehende sachverständige Beratung über die zugrunde liegenden medizinischen Gegebenheiten, Erfahrungssätze und Einsichten regelmäßig nicht beurteilt werden.[270] Denn der maßgebende medizinische Standard des jeweiligen Fachgebiets wird vorrangig nicht durch das Recht festgelegt, sondern ist das Ergebnis einer – allerdings juristisch bewerteten – medizininternen Auseinandersetzung. „Ob ein Arzt seine berufsspezifische Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist daher in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet“, und deshalb „muss der Richter den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln,“[271] der dem jeweils betroffenen medizinischen Sachgebiet angehören muss.[272] „Gebietsgrenzen und Facharztkompetenz“ sollten deckungsgleich sein, anders formuliert, „das Gebiet der Begutachtung folgt dem der Behandlung“.[273] Der Hinweis auf die Lektüre einschlägiger medizinischer Fachliteratur oder Leitlinien „ist grundsätzlich nicht geeignet“, das erforderliche Fachwissen des Gerichts zu begründen, „da das Studium derartiger Literatur infolge der notwendigerweise generalisierenden Betrachtungsweise dem medizinischen Laien nur bruchstückhafte Kenntnisse vermitteln kann“.[274] Nur der Sachverständige ist auf Grund seiner wissenschaftlichen Qualifikation und praktischen Erfahrung in der Lage, den Inhalt des Standards im konkreten Fall zu beschreiben und die oft schwierigen Kausalitätsfeststellungen zu treffen. Vor dem Hintergrund der mangelnden Sachkunde des Gerichts, Staatsanwalts und Verteidigers hat sich daher in der Praxis des Arztstrafrechts der Sachverständige de facto „weitgehend als eine den Tathergang ermittelnde und die Entscheidung vorprogrammierende Institution etabliert“.[275] Die objektive und subjektive Sorgfaltspflichtverletzung wird also in ihrer formalen Begrenzung nach juristischen Prinzipien bestimmt, bemisst sich aber materiell nach Erfahrungs- und Kunstregeln, die von den Ärzten selbst anerkannt und angewendet werden.[276]
b) Prozessuale Stellung des Sachverständigen und Konsequenzen für die Verteidigung
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„Formalrechtlich ist der Sachverständige Richtergehilfe, mit seinem Fachwissen aber dominiert er den Prozess“.[277] Der Richter bleibt zwar verpflichtet, das Gutachten selbstständig, eigenverantwortlich und kritisch auf seine Überzeugungskraft, Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit[278] zu prüfen, doch läuft dies praktisch auf eine Plausibilitätskontrolle hinaus. Die Folge ist, dass der Richter die Verantwortung für Entscheidungen trägt, die jedenfalls in großem Umfang und zu zahlreichen Tatmerkmalen der fahrlässig begangenen Delikte in Wirklichkeit ein anderer, nämlich der Sachverständige, produziert hat.
Diese auch in ihrer Legitimation problematische „Übermacht“ legt dem Gutachter eine besonders hohe Verantwortung für die sachliche Richtigkeit seiner Ausführungen auf. Gibt es also z.B. mehrere medizinisch anerkannte Lehrmeinungen, gibt es einen „Schulenstreit“ und Leitlinien, so muss der Sachverständige das ganze Meinungsspektrum deutlich machen. Er darf nicht einseitig zugunsten der einen oder anderen Methode entscheiden. Neben hoher Fachkompetenz muss er ein gewisses rechtliches Grundwissen haben, ohne das er seiner Stellung und Funktion im jeweiligen Verfahren nicht gerecht werden kann. Die notwendige Beschränkung auf das eigene Fachgebiet zwingt zur Hinzuziehung eines Experten für spezielle Fragestellungen, die in andere Fachgebiete hineinreichen. Unverzichtbar ist auch die eigene berufliche Erfahrung, wenn es um die Beurteilung einer bestimmten Behandlungsmethode geht.
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Die unzweifelhaft hohe Bedeutung des Gutachters zwingt die Verteidigung, sich insbesondere mit dem vom Gericht bestellten Gutachter und seinem Vortrag im Austausch mit dem regelmäßig selbst kundigen Mandanten intensiv auseinanderzusetzen. Schwachpunkte, insbesondere eines übermäßige Anforderungen vertretenden Gutachters (siehe Rn. 138 ff.), müssen gefunden werden, um damit insbesondere dem Gericht aufzuzeigen, dass es ggf. auch in eine falsche Richtung gelenkt zu werden droht. Vom Gutachter gleichsam versteckte Zweifel an vermeintlich bestimmt formulierbaren Ergebnissen sind offenzulegen. Stets ist auf mögliche Gründe der (zu besorgenden) Befangenheit zu achten (siehe § 74 StPO) und unter Abklärung der finanziellen Möglichkeiten die Einführung/Beantragung eines weiteren „Privatgutachtens“ zu erwägen, das die Zweifel kundig ausarbeiten kann.
c) Gebot der Objektivität
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Weitere Grundvoraussetzungen für das Tätigwerden des Sachverständigen sind seine Unbefangenheit, seine Vorurteilsfreiheit und Unvoreingenommenheit. Objektivität geht stets vor Standessolidarität, aber auch vor Rivalität. Das sog. Privat- oder Parteigutachten, das der Sachverständige im Auftrag des Beschuldigten erstattet, darf daher nicht parteiisch sein. Denn das Vertrauen in die Wissenschaft lebt vom Glauben an die Unabhängigkeit der Experten. Deshalb ist es auch verfehlt, vom Gutachter „des Gerichts“, „der Staatsanwaltschaft“ oder „der Verteidigung“ usw. zu sprechen. Das Gebot der Unparteilichkeit verbietet dem Sachverständigen, Lücken in den tatsächlichen Feststellungen oder divergierende Zeugenaussagen durch Unterstellungen, Vermutungen, Eigeninterpretation oder Spekulationen zugunsten oder -ungunsten des Beschuldigten zu beseitigen. Untersagt sind in gleicher Weise eigenständige Ermittlungen und die selbstständige Vernehmung von Zeugen.