d) Übersteigerungsgefahren
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Bedauerlicherweise verkennen jedoch die medizinischen Sachverständigen, „zumal aus dem Kreise der sog. Koryphäen, nicht selten, dass der berühmte Kliniker in der Regel unter ganz anderen Verhältnissen arbeitet als der oft unter den schwierigsten Verhältnissen zur Tätigkeit gezwungene Landarzt, und deshalb bei Ersterem manches als eine Sorgfaltsverletzung angesehen werden kann, was bei dem anderen als eine solche nicht in Betracht kommt“.[280] Der Gutachter weiß oftmals nicht oder vergisst, dass die unterschiedliche Ausstattung der einzelnen Krankenhäuser in struktureller, personeller und sächlicher Hinsicht sowie die konkrete Situation zum Zeitpunkt des Geschehens bei der Festlegung der objektiv erforderlichen Sorgfalt berücksichtigt werden muss. Deshalb ist es nicht selten der ärztliche Sachverständige, der überzogene Leistungspflichten postuliert, indem er seiner Beurteilung den Standard einer Universitätsklinik und nicht jedenfalls auch die Gegebenheiten desjenigen Krankenhauses „zugrunde legt, in dem sich der Zwischenfall“ ereignet hat.[281] Der BGH hat dies wiederholt gerügt und die situationsorientierte Beurteilung des fachärztlichen Standards gefordert.[282] Leider aber werden immer wieder „optimale, ja maximale Gegebenheiten in der eigenen Klinik einfach zum Minimalstandard aller Häuser“ erklärt, so dass man sich nicht über Gerichtsurteile wundern darf, „die sich auf Idealausstattungen gründen“.[283] Angesichts der Knappheit der Ressourcen und den daraus sich ergebenden Einschränkungen ist dies besonders fatal, da eigentlich Kostenaspekte mehr und mehr berücksichtigt werden müssen.[284]
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Zwei Beispiele:
1. | Im Kreißsaal eines Städtischen Krankenhauses wurde an einem Samstagnachmittag eine zunächst normal verlaufende Geburt weitgehend von einer Hebamme überwacht. Der einzige Arzt auf der Gynäkologischen Station war ein junger Assistenzarzt, der auch alle anderen Patientinnen zu betreuen hatte und daher nicht ständig, sondern nur ab und zu im Kreißsaal war. Da die Hebamme das pathologische Herzfrequenzmuster des CTG nicht erkannte und den Assistenzarzt zu spät rief, erlitt das Neugeborene infolge Sauerstoffmangels schwere Schäden. Der Sachverständige sah hier ein Organisationsverschulden als gegeben an, da die moderne Geburtshilfe einen „ärztlichen Kreißsaaldienst rund um die Uhr“ verlange – ein Schlagwort, das die Presse gierig aufgriff. Der Gutachter hatte jedoch übersehen, dass diese Forderung zwar an seiner Universitätsklinik bei dem dortigen Personalschlüssel, jedoch keinesfalls in dem betreffenden Städtischen Krankenhaus zu erfüllen war (siehe schon Rn. 138). |
2. | Ähnlich kritisch äußerte sich ein renommierter Sachverständiger in einem Fall, in dem es um den Vorwurf einer Patientin ging, bei ihr habe der Gynäkologe im Jahr 2000 die Krebs-Früherkennungsmaßnahmen nur unzureichend durchgeführt und dadurch ein Mammakarzinom zu spät erkannt. Obwohl die Durchführung einer mammographischen Untersuchung ohne Vorliegen von Symptomen für die Altersgruppe der Patientin erst im März 2002 Eingang in die Leitlinie der AWMF fand, wertete der Gutachter das Verhalten des Arztes vor Gericht auf Grund seiner intensiven Befassung mit den einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und seiner darauf beruhenden Befürwortung einer umfassenden Krebsvorsorgediagnostik mittels Mammographie als Behandlungsfehler. Dem trat jedoch das OLG Hamm mit Recht entgegen, da der Sachverständige „bei seiner Befragung Zweifel aufkommen ließ, ob es ihm gelang, sich in die Situation des niedergelassenen Arztes hineinzuversetzen“ und im Übrigen die Gerichte bislang „das Unterbleiben einer Mammographie ohne Vorliegen von Auffälligkeiten“ nicht als fehlerhaft angesehen hatten.[285] |
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Die daraus resultierende Gefahr der Überspannung der Sorgfaltspflicht wird noch dadurch verstärkt, dass viele Gerichte und Staatsanwaltschaften gegenüber entlastenden Sachverständigengutachten – unbewusst oder bewusst – skeptisch sind, da sie befürchten, der Gutachter könne „aus falsch verstandener Kollegialität oder infolge verfehlter Interpretation der Standespflicht einen Kollegen durch unvollständige oder verschleierte Angaben“ decken[286] oder den gebotenen Behandlungsstandard zu niedrig ansetzen. Dass aber der Sachverständige „seine Funktion nur dann erfüllen kann, wenn er seine Aufgabe darin sieht, dem Richter bei der Urteilsfällung zu helfen“, und nicht darin, den „Kollegen aus einer schwierigen Situation“ zu retten, „sollte keiner Hervorhebung bedürfen“.[287] Dennoch sind Bedenken und Vorbehalte, manchmal auch Misstrauen, gegenüber medizinischen Sachverständigen in der Justizpraxis weit verbreitet[288] und führen in der Reaktion bisweilen dazu, dass vom Gericht der Sorgfaltsmaßstab nur wegen der latenten Gefahr „überholten und in diesem Zusammenhang der Rechtsordnung widersprechenden“[289] Standesdenkens ohne sachlichen Grund verschärft wird. So richtig es ist, dass Richter und Staatsanwalt die Objektivität und Sachkunde des Sachverständigen selbst überprüfen, so sehr muss sich der Jurist aber davor hüten, dem eigenen „Fachwissen“ in medizinischen Fragen zu vertrauen. „Die Grenze zwischen Urteil und Vorurteil ist nirgends so leicht wie hier überschritten“.[290] Deshalb sollte „der Richter – zumal in Grenzfällen – mit größter Vorsicht zu Werke gehen und sich nicht mit dem Gutachten eines Sachverständigen, und sei er auch eine Berühmtheit, begnügen“.[291]
4. Sorgfaltspflichtverletzung durch Tun oder Unterlassen
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Der Fahrlässigkeitsverstoß des Arztes kann in einem „positiven“ (aktiven) Tun, z.B.:
• | Legen einer zu engen Bassini-Naht bei einer Leistenbruchoperation, |
• | Injizierung eines falschen Medikaments, |
• | Verletzung der Speiseröhre bei der Intubation durch den Anästhesisten, |
• | Zuführung von Halothan anstatt Sauerstoff bei der Narkose, |
• | Operation des rechtsseitigen anstatt des linksseitigen Leistenbruchs, |
• | Amputation des gesunden statt des krebsbefallenen Lungenflügels, |
• | Verschreibung süchtig machender Beruhigungsmittel |
oder in einem „Unterlassen“, nämlich der Nichtvornahme einer medizinisch gebotenen Maßnahme bestehen, z.B.
• | der nicht rechtzeitigen Einweisung in das Krankenhaus, |
• | der zu späten Operation bei Verdacht auf Peritonitis, |
• | der Nichtvornahme einer Röntgenübersichtsaufnahme des Abdomens, |
• | der Nichtinformation des Chefarztes trotz lebensbedrohlicher Entwicklung des Geburtsverlaufs für Mutter und Kind, |
• | der Nichteröffnung eines zu eng gelegten Gipsverbandes nach einem komplizierten Unterarmbruch, |
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der verspäteten Entscheidung zur sectio,
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