112
Allerdings fordert die Rechtsprechung geeignete organisatorische Maßnahmen, um die aus mäßigen Behandlungsbedingungen vor Ort und Strukturmängeln im konkreten Behandlungsbereich resultierenden Gefahren für den Patienten zu neutralisieren, gleichgültig ob diese Gefahrenquellen auf Medikamentenrisiken, übermüdete Ärzte, Berufsanfänger oder Personalknappheit zurückzuführen sind.[202] Derartige Umstände rechtfertigen keine Abstriche am Behandlungsstandard,[203] vielmehr übernimmt das Haftungsrecht hier eine Schutzfunktion zugunsten des Patienten.
h) Einfluss der Ressourcenknappheit auf den medizinischen Standard
113
Inwieweit dies auch „gegenüber allzu rigiden Einschnitten in die Ausstattung von Gesundheitseinrichtungen“ infolge Budgetierung und einer restriktiven Haushaltspolitik[204] gilt, ist noch weithin ungeklärt. Die Rechtsprechung hat allerdings die prinzipielle Notwendigkeit anerkannt, wirtschaftliche Überlegungen in ärztliches Denken durch eine Abwägung aller relevanten Faktoren einfließen zu lassen[205] und „die allgemeinen Grenzen im System der Krankenversorgung, selbst wenn es Grenzen der Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind“, bei der Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabs im Einzelfall nicht zu vernachlässigen.[206] Ausdrücklich betont auch das BVerfG: „Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist. Zumutbare Eigenleistungen können verlangt werden“.[207]
aa) Ökonomische Grenzen des Standards
114
Mit dieser Feststellung kann es aber angesichts des immer weiteren Auseinanderdriftens zwischen dem medizinisch Machbaren und dem ökonomisch Möglichen bei der ärztlichen Berufsausübung nicht sein Bewenden haben, vielmehr müssen „die Gerichte lernen, in den Begriff des medizinischen Standards auch die durch das Budget gesetzten Grenzen einzubeziehen“,[208] damit nicht die unmittelbar agierenden Ärztinnen und Ärzte die ihnen oftmals aufgedrängten Einschränkungen ausbaden müssen. „Der haftungsrechtlich zu fordernde Standard ignoriert insoweit nicht ökonomische Zwänge“[209] und dasselbe muss auch für den strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstab gelten, der auf der objektiv-typisierenden Ebene mit dem zivilrechtlichen Leitbild inhaltlich übereinstimmt. Insofern besteht auch kein prinzipieller Widerspruch gegenüber dem sozialrechtlichen Standard, wie sich insbesondere aus den §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 27 Abs. 1, 70 Abs. 1 SGB V ergibt, welche den in ihm geltenden Standard an den Wirtschaftlichkeitsgrundsatz binden.[210] Daraus folgt: Wenn auch nach Ausschöpfung aller organisatorischen Möglichkeiten, Rationalisierungsmaßnahmen und Umverteilung der finanziellen Mittel die personellen und instrumentellen Engpässe infolge der Mittelknappheit nicht zu beseitigen sind, ist der medizinische Standard hic et nunc zwangsläufig niedriger anzusetzen als dort, wo die Sach- und Personalausstattung auf Grund günstigerer wirtschaftlicher Verhältnisse besser ist. Allerdings: Über eine so begründete Abschwächung der im Übrigen medizinisch begründeten Maßstäbe ist der Patient bei Beginn oder Fortsetzung der Behandlung aufzuklären, wenn für den Behandelnden erkennbar ist, dass der Patient die Behandlung anderenorts mit signifikant geringeren Risiken durchführen lassen kann.[211] Im Übrigen ist hinsichtlich standardisiert verfügbarer Alternativbehandlungen die Aufklärungspflicht des § 630e Abs. 1 S. 3 BGB auch dann zu beachten, wenn diese nur in anderen Einrichtungen möglich sind.[212]
bb) Relativität des Standards
115
Auf der von Ort und Zeit abhängigen gleitenden Skala des Standards gibt es ein Oben und Unten ebenso wie ein Auf und Ab, d.h. der medizinische Standard ist relativ, allerdings stets oberhalb einer „unverzichtbaren Basisschwelle“,[213] deren Bestimmung das Recht durch die Gerichte unter dem Leitgesichtspunkt „Vorrang für Schutz und Sicherheit des Patienten“ vornimmt. Diese Untergrenze liegt m.E. dort, wo das erlaubte Risiko, das in der Zulassung verschiedener Versorgungsformen ersichtlich mitgedacht ist, überschritten wird und sich die (fortgesetzte) Behandlung vielmehr als Übernahmeverschulden darstellt, weil die von der Behandlung ausgehende Gefährdung des Patienten infolge mangelnder Qualifikation oder ungenügender personeller oder sachlicher Ausstattung des Krankenhauses die Erfolgschancen des Heileingriffs überwiegt und damit „die Erfüllung des Heilauftrags […] grundsätzlich in Frage“ steht.[214] Die Unterschreitung dieses Mindeststandards kann sodann – sind auch die Übrigen Anforderungen des Delikts inklusive der individuellen Schuld verwirklicht – zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes und erst recht zu seiner zivilrechtlichen Haftung führen. Mit Nachdruck betont der BGH z.B., Ärzte und Krankenhausträger dürften „sich in keinem Fall darauf berufen, ein Mangel an ausreichend ausgebildeten Fachärzten zwinge zum Einsatz unerfahrener Assistenzärzte“,[215] der gebotene Sicherheitsstandard dürfe nicht etwaigen personellen Engpässen geopfert werden[216] oder die „angemessene medizinische Versorgung sei von vornherein nicht sicherzustellen“.[217] Deshalb sind sog. Parallelnarkosen und die Einrichtung fachübergreifender Bereitschaftsdienste zwar nicht ausnahmslos rechtswidrig, aber nur unter engen Kautelen rechtlich zulässig,[218] da die Sicherheitsinteressen des Patienten gegenüber der durch solche Maßnahmen erzielten Kostenersparnis Vorrang haben. „Das Wirtschaftlichkeitsgebot findet seine Grenzen an den konkreten Bedürfnissen des Patienten, die in besonders gelagerten Fällen den ärztlichen Standard sogar übersteigen können“.[219]
116
Zugleich darf dem Arzt weiter kein Vorwurf gemacht werden, wenn der medizinische Standard – oberhalb der Basisschwelle – aus Gründen, die nicht in seiner Verantwortung liegen, anderenorts deutlich höher, aber eben in seinem Tätigkeitsbereich trotz aller Anstrengungen nicht realisierbar ist. Wenn die Finanzierungs- und Wirtschaftlichkeitsreserven auch bei bester Organisation die Vornahme und Vorhaltung bestimmter Leistungen aus Kostengründen nicht zulassen, reduziert sich der für die Beurteilung der gebotenen Sorgfalt geltende medizinische Standard und begrenzt unter dem Aspekt der Zumutbarkeit die Sorgfaltspflichten. Anderenfalls würde das Krankheitsrisiko des Patienten zu einem untragbaren, weil diesem nicht vorzuhaltenden Strafbarkeitsrisiko auf Seiten des Arztes führen.[220]
cc) Sozialrechtliche Grenzen des Standards
117
Nämliches gilt im Falle einer Diskrepanz zwischen sozialrechtlichem und haftungsrechtlichem Standard. Wenn der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Methode oder ein Heilmittel als nicht notwendig und damit nicht erstattungsfähig bezeichnet und der Arzt daher von deren Anwendung absieht, weil die Leistung schon aus dem Versorgungsauftrag der GKV ausscheidet, darf ihm „grundsätzlich kein Fehlervorwurf gemacht werden“,[221] solange der